Süddeutsche Zeitung

Die Pianistin Martha Argerich wird 80:Charmanter Furor

Genialisches Talent, fulminante Musikalität: Martha Argerich, die bedeutendste Pianistin des 20. Jahrhunderts, wird 80 Jahre alt.

Von Helmut Mauró

An diesem Samstag wird Martha Argerich, geboren in Buenos Aires, zu Hause in der Welt, erstaunliche 80 Jahre alt, und wenn Corona vorüber ist und man ein bisschen Glück hat, kann man sie wieder live erleben. Man riskiert wenig, und auch dies gerne, wenn man behauptet, sie sei die bedeutendste Pianistin des 20. Jahrhunderts. Zugegeben, die Konkurrenz ist, anders als bei den männlichen Kollegen, quantitativ nicht übermächtig, aber es gibt sie. Wanda Landowskas Bach-Annäherungen sind bis heute von Belang, Annie Fischer ist nur noch Spezialisten ein Begriff, Gina Bachauer ebenfalls, Clara Haskil galt für ihre Mozart-Aufnahmen bis in die Fünfzigerjahre und darüber hinaus als eine der führenden Pianistinnen.

Aber sowohl was die Breite des Repertoires betrifft als auch die fulminante Musikalität, mit der sie bedeutende Werke von Bach, Mozart, Beethoven, Schumann, Liszt, Brahms verlebendigte, transzendierte, dazu die Moderne von Chopin, Poulenc, Prokofjew, Bartók, Rachmaninow und eigentlich alles, was einem Pianisten lieb und heilig ist, hebt Argerich selbst im fortgeschrittenen Alter über die allermeisten Kolleginnen weit hinaus. Wie bei allen herausragenden Musikern erreicht sie eine Intensität, bei der sich die Ordnung der Klänge in etwas begriffslos Sprechendes verwandelt, ohne seine klangliche Sinnlichkeit zu verlieren. Bei Argerich kommt aber noch etwas hinzu: ein charmanter Furor, der auch jene Zuhörer mitreißt, die das Konzert mit geschürzten Lippen und gemessener Emphase verfolgen. Argerich bringt auch Lateinlehrer in Wallung.

Dieses genialische Talent zeigte sich Zeitzeugenberichten zufolge schon im Kindesalter, bei einem öffentlichen Auftritt etwa, bei dem die Achtjährige Mozarts d-Moll-Konzert, Beethovens C-Dur-Konzert und Bachs fünfte Französische Suite vortrug. Das Publikum war nicht nur begeistert, es geriet außer Rand und Band.

Sie sucht sich Klavierpartner und -partnerinnen, zu denen sie auch menschlich eine besondere Beziehung spürt. Vielleicht ist es eine besondere Auszeichnung, wenn sie dabei das gleiche Stück, Mozarts vierhändige D-Dur-Sonate KV 448, noch einmal einspielt, 1993 stürmisch überwältigend mit Alexandre Rabinovitch, 2014 mit Daniel Barenboim, wie von innen leuchtend - vielleicht die Mozartischste Aufnahme, oder hurtig, von hell leuchtender Klarheit mit Sergei Babayan, dem Lehrer von Daniil Trifonov, in einem Live-Mitschnitt aus Lugano 2016. Man kann diese menschliche Komponente bei ihr nicht ausblenden. Ihre Nähe ist die einer freundlichen Diva, stets offen, warmherzig .

Die Schar ihrer Anhänger ist quasi identisch mit dem musikinteressierten Teil der Menschheit

Beim Dinner nach dem Konzert bemüht sie sich geradezu, nicht im Mittelpunkt zu stehen, lässt alle anderen wichtig erscheinen - dabei gibt es in der Klassikszene eigentlich nur wichtige Leute -, nur nicht sich selbst. Ihr Blick schweift, früher, als es noch erlaubt war, sah sie dabei ihren Zigarettenwolken hinterher, und macht einen glauben, sie sei nur Zaungast. Auch auf der Bühne wirkt sie manchmal so, als lausche sie der vorüberziehenden Musik hinterher und sei gar nicht selber Urheberin und Akteurin. Was nicht heißt, dass sie nicht auch mal mit Tigerpranken den Steinway herausfordert oder in hochvirtuosen Läufen über die Tasten saust.

Zahlreiche Aufnahmen belegen das, erschienen bei Warner, Sony und vor allem der Deutschen Grammophon, die auch eine Geburtstagsedition mit Werken von Chopin geplant hat. Einiges fehlt, man hätte sich wenigstens eine einzige Beethoven-Sonate gewünscht, wo sie doch in jungen Jahren eigens nach Wien pilgerte, um mit Friedrich Gulda - "Ich weiß gar nicht, was ich ihr beibringen soll" - zu arbeiten. Guldas Lehrtätigkeit bestand dann wohl vor allem darin, sie zu ermuntern, zu selbstsicherem Musizieren zu drängen, sich frei zu spielen, ihr furchtbares Lampenfieber ein wenig zu senken. Als sie zwei Jahre später, 1957, den renommierten Busoni-Klavierwettbewerb gewann, wartete man gespannt auf den Beginn einer fulminanten Karriere. Stattdessen kam die Krise, Rückzug ins Familiäre.

Erst 1964 traute sie sich wieder auf die Bühne, gewann ein Jahr später den Chopin-Wettbewerb, was den eigentlichen Anschub gab für ihre Weltkarriere. Später saß sie selbst in der Jury dieses Wettbewerbs und konnte nicht glauben, dass man dem jungen Ivo Pogorelich keinen Preis geben wollte. Sie verließ unter Protest dieses Gremium und organisierte ein Konzert für den jungen Kollegen. Womit dessen Weltkarriere begann. Das ist die andere Seite ihrer Persönlichkeit, da ist sie Kämpferin. Öfter aber trifft man die Vorsichtige, Empathische, gleichwohl von Bühnenangst Verfolgte. Seit den frühen 1980er-Jahren ist sie nicht mehr solistisch aufgetreten. Ein Jammer, aber sie hat die Schar ihrer Anhänger, und die ist quasi identisch mit dem musikinteressierten Teil der Menschheit, doch reichlich beschenkt. In Livekonzerten, unermüdlichen Welttourneen, mit zahlreichen Plattenaufnahmen.

Argerich hat das vierhändiger Klavierspiel zu höchster Meisterschaft geführt

In denen natürlich wie immer vieles nicht zu finden ist, das nur im Livekonzert lebendig wirkt. Trotzdem fühlt man sich beim Hören dieser Aufnahmen dem Konzertsaal oft näher als bei anderen Pianisten. Argerich korrigiert nicht gerne, lässt lieber kleinere Unsauberkeiten stehen zugunsten des Gesamteindrucks. Vielleicht liegt es daran. Und manchmal, wenn man schon glaubt, eigentlich entgehe einem auf der CD alles Wesentliche, findet man zum Beispiel in einem Livemitschnitt vom Verbier-Festival 2007 auf einmal bei Robert Schumanns "Kinderszenen" jene intimen Momente, die sonst nur im unmittelbaren Dabeisein möglich sind. Wobei dieses Festival im hochalpinen Verbier ein ungewöhnlicher, außergewöhnlicher Schutzraum für Künstler ist, wo sie sich wohlfühlen und befreiter zu Werke gehen als sonst. Dieser Überschuss an unverstellter Musikalität, an unmittelbarer und sehr persönlicher Ausdruckseuphorie, überträgt sich offenbar auch auf manchen Mitschnitt.

Deshalb findet man auf dieser CD auch gleich das nächste Wunder: den vollkommenen Einklang zweier Klavierkünstler. Was einst der Bühnenscheu entsprungen sein mag, nämlich das vierhändige Klavierspiel, hat Argerich mit zahlreichen Kollegen und Kolleginnen, erfahrenen und unbekannten, zur höchsten Meisterschaft geführt. Und doch gelingt es - etwa mit Lang Lang in Franz Schuberts "Grand Rondeau" - wie kaum einem der langjährig erfahrenen Klavierduos, dass beide Tastenmeister klanglich und vor allem im Erzählduktus derart verschmelzen, dass sie wie aus einem Mund sprechen. Das ist eine hohe Kunst und verlangt eine direkte Kommunikation, eine gleiche Wellenlänge, und ist doch nur dann musikalisch sinnvoll, wenn man sich nicht auf einen kleinen gemeinsamen Nenner einigen muss, sondern im vorauswissenden Verständnis des Partners größtmögliche Freiheit der Gestaltung gewinnt. Hier wie auch im Zusammenspiel mit zahlreichen bedeutenden Geigensolisten, Flötisten, Bratschisten et al. erweist sich Argerich als Königin der Kammermusik.

Die kategoriale Bedeutung menschlicher Nähe zeigt sich aber nicht nur im Kammerspiel, sondern auch bei den Klavierkonzerten mit großem Orchester, die sie einzigartig mit Claudio Abbado realisiert hat; der dirigiert dabei verschiedene europäische Spitzenorchester, mit denen er besonders vertraut ist, darunter die Berliner Philharmoniker. Manchmal aber will man nur sie hören, dann muss man frühe Aufnahmen suchen, etwa eine h-Moll-Sonate von Chopin, eingespielt 1965 in den legendären Abbey Road Studios, oder ein paar traurige Mazurken, die sich in der weiten polnischen Moränenlandschaft verlieren.

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