Die Schlagzeilen kamen wie erhofft, ein Jahr vor dem Kulturhauptstadttermin Marseilles, nur waren es nicht die richtigen. Fünf Männer insgesamt, so wurde gemeldet, seien innerhalb eines Monats auf offener Straße erschossen worden. Es waren alles Morde unter rivalisierenden Clans in der Szene des Drogenhandels.
Die südfranzösische Hafenstadt bestätigt das Klischee von Gewalt und Sonnenschein, während auf den verwitterten Plakatwänden der Bürgermeister Jean-Claude Gaudin vor einer Kulisse aus Baukränen seinen Leuten ein glückliches neues Jahr wünscht. Marseille inszeniert Veränderung und kämpft gegen üble Nachrede.
Zum Beispiel die, dass sie als Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2013 nicht gewappnet wäre. Tatsächlich mögen ein paar Projekte den Peitschenschlag dieses Termins nötig gehabt haben. Doch lag die Verzögerung nicht immer an Marseille selbst. Das neue Musée des Civilisations Europe Méditerranée (MuCEM) etwa wurde vor zehn Jahren als erstes großes Staatsprojekt Frankreichs außerhalb der Hauptstadt Paris angekündigt und sollte die Sammlung des inzwischen geschlossenen Pariser Volkskunstmuseums im Bois de Boulogne aufnehmen.
Der aus dem Architekturwettbewerb sieghaft hervorgegangene Bauentwurf von Rudy Ricciotti am Fuß des ehemaligen Hospitaliter-Forts Saint-Jean am alten Hafeneingang blieb dann aber auf dem Papier stecken. Nun tanzen endlich die Kräne. Mit seiner ständigen Sammlung im alten Fort und zwei thematischen Ausstellungen im Neubau soll das Museum im nächsten Jahr termingerecht eingeweiht werden.
Fehlgeleitete Architekturprojekte
Im Stadtgefüge Marseilles wird es ein neues Kernstück sein. Von der ehemaligen Hafenmole wird ein Steg durchs Fort Saint-Jean über die Verkehrsschneise der nördlichen Stadteinfahrt hinweg eine direkte Verbindung ins heute reizvolle Altstadtviertel Le Panier herstellen. Schade nur, dass Ricciottis massiver Glaskasten in seinem aus Beton gehäkelten Spitzenkleid die ganze Umgebung verstellt und das ebenfalls im Bau befindliche Centre régional de la Méditerranée (CeReM), eine luftige Raumskulptur des Italieners Stefano Boeri, zu Boden drückt.
La Méditerranée und dessen Kultur der Geselligkeit, der langen Mittagszeit, der hitzigen Rede, der vergnügten Improvisation wird da wie ein trotziges Glaubensbekenntnis gefeiert. Gegenüber der Rechthaberei des nördlichen Buchhalter-Europa stehe er an der Seite der Griechen, Italiener, Spanier, mögen diese in ihrem Staatshaushalt auch ein paar Rechenfehler gemacht haben - sagt Michel Vauzelle, der Vorsitzende der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur. Er ist der Hauptinitiator des CeReM-Kulturzentrums. Was darin zu sehen sein wird, weiß er allerdings noch nicht so genau.
In der Nord-Süd-Falle
Er weiß hingegen zwei Dinge: dass die von Sarkozy angeregte Mittelmeerunion auf Staatenebene tot ist, bevor sie wirklich lebte, und dass das europäische Mittelmeerufer sich hinter der Schengener Kontinentalsperre und hinter den nationalen Staatsgrenzen abzuschotten versucht ist, mit einem besonders hohen Anteil von Le-Pen-Wählern an der französischen Küste. Dagegen will der Regionalpolitiker Vauzelle regionale Brücken schlagen rund ums Mittelmeer. Denn er weiß auch, dass im Fall einer Verschärfung des Nord-Süd-Gefälles Marseille in der ersten Reihe des Problemfelds säße.
Ein Stück weit gehören die Sozialkonflikte schon mit zum Alltag der Stadt. Das Baufieber, das vorab den nördlichen, ärmeren Teil von Marseille erfasst hat, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Die Großsiedlungen aus den sechziger Jahren sind teilweise zu Geisterstädten verkommen, in denen der Drogenhandel blüht und die Polizei sich nur noch mit Verstärkung bewegt. Der Rückgang des Industrie- und Hafenbetriebs hat die Arbeitslosigkeit erhöht. Die Hälfte der Haushalte ist nicht einkommenssteuerpflichtig, ein Drittel der Einwohner lebt an der Armutsgrenze, jeder zehnten Familie fehlt ein Elternteil. Marseille ist zwar die größte, zugleich aber die ärmste unter Frankreichs Regionalmetropolen.
Dieser Stagnation sucht man seit 1995 mit der Riesenbaustelle "Euroméditerranée" zwischen dem Hauptbahnhof Saint-Charles und dem Hafenviertel La Joliette zu entkommen. Die Hafenfront wird erneuert, ein Hochhaus von Zaha Hadid steht schon, ein Konzertsaal im ehemaligen Kornspeicher Le Silo wurde gerade eingeweiht, eine schicke Flaniermeile um die zur Zeit noch von Schnellstraßen umgebene Kathedrale La Major über dem Hafen soll folgen.
Die nordafrikanischste aller europäischen Städte in ein Luxusobjekt nach dem Vorbild Barcelonas oder Neapels verwandeln zu wollen, ist aber ein schwieriges Unterfangen. Die Sanierung der Rue de la République ist ein Beispiel dafür. Dieser während dem Zweiten Kaiserreich nach dem Pariser Modell im Stil Haussmanns entstandene Boulevard hat nie das erhoffte Bürgertum angelockt und geriet in Verwahrlosung. Seine aufwändige Renovierung seit acht Jahren mit Verkehrsberuhigung, Baumbepflanzung, Boutiquen und vornehmen Apartments führt auch nicht zum angestrebten Ergebnis. Die Investoren kommen so wenig wie damals die Bürger der Belle Époque. Marseille will keine Bürgerstadt werden.
Dem muss das Kulturhauptstadtprogramm Rechnung tragen, zumal über die Stadt Marseille hinaus fünf Dutzend weitere Kommunen des Départements Bouches-du-Rhône beteiligt sind, darunter die vornehme Festivalstadt Aix-en-Provence. Neben den klassischen Veranstaltungsschwerpunkten - Ausstellungen über die "Maler des Südens" von van Gogh bis Matisse, über Albert Camus, über Le Corbusier - zeichnet sich das Programm "Marseille Provence 2013" mit seinem Gesamtbudget von 90 Millionen Euro vor allem durch eine Vielzahl origineller Kleinprojekte aus. Unter dem Titel "TransHumance" werden im Schritttempo der Pferdegespanne Künstler aus Italien und Marokko das Gebiet durchqueren.
250 Wanderkilometer durch Stromleitungswälder und Niemandsland
Vierzig am Stadtbauprojekt Euroméditerranée beteiligte Institutionen und Unternehmen lassen im Rahmen von "Marseille Provence 2013" je einen Künstler bei sich mitarbeiten. Oder im Großraum Marseille werden abseits der pittoresken Felsbuchten der "Calanques" 250 Kilometer neue Wanderwege durch Industriegebiete, Stromleitungswälder und Niemandsländer angelegt.
Zu den herausragenden Vorhaben gehört aber auch der Ausbau des ehemaligen Internierungslagers Les Milles, in dem zwischen 1939 und 1942 zunächst ausländische Exilanten wie Lion Feuchtwanger, Hans Bellmer, Max Ernst, dann Résistance-Kämpfer und schließlich jüdische Häftlinge vor dem Abtransport nach Drancy und Auschwitz eingesperrt waren, zu einem öffentlich zugänglichen Ort des Gedenkens.
Das kulturelle Herz Marseilles schlage mehr in der seit zwanzig Jahren sich entwickelnden Kulturbrache La Belle de Mai auf dem Gelände einer ehemaligen Tabakfabrik als im klassischen Kunstbetrieb, meint der Norddeutsche Ulrich Fuchs, der als stellvertretender Direktor für "Marseille Provence 2013" aus der ehemaligen Kulturhauptstadt Linz in den Süden gekommen ist. Die stark oral ausgerichtete Tradition dieser Gegend - in der Stadt gibt es laut Fuchs mehr Bars als Briefkästen - soll im Veranstaltungsprogramm wie im Vorgehen des Vorbereitungskomitees nutzbar gemacht werden.
Banlieu inmitten der Stadt
Dessen Vorsitzender Jean-François Chougnet hat wie sein Vorgänger Bernard Latarjet, der die Kandidatur Marseilles vor vier Jahren zum Sieg geführt hat, das bis zum Gezänk herzhafte Temperament der Ortsansässigen schätzen gelernt. Im Unterschied zu anderen Orten würden hier die Probleme nicht ausgegrenzt, sagt die für das Sozialprogramm von "Marseille Provence 2013" zuständige Nathalie Cabrera: Was anderswo in den mehr oder weniger fernen Banlieues abläuft, passiert in Marseille mittendrin. Mit fünfzehn Künstlerprojekten soll dieses explosive Potential im Programmteil "Quartiers créatifs" auf neue Bahnen gelenkt werden.
Das Stadtquartier Le Panier nördlich des alten Hafens hat solche Programme nicht mehr nötig. Es steht mit seinen engen Straßen gerade auf der Kippe zwischen authentischer Volkstümlichkeit und restauriertem Nostalgieschick. "Ich ging die Rue du Panier hinab", heißt es in einem Roman des Marseiller Krimi-Autors Jean Claude Izzo, "und meine Erinnerung hallte lauter als die Schritte der Passanten. Das Viertel war noch kein Montmartre, der üble Ruf blieb hartnäckig, die üblen Gerüche ebenfalls".
Das hat sich inzwischen geändert, und etwas weiter westlich blicken die Proletarier in den Filmen Robert Guédiguians, dieses verspäteten Marcel Pagnol der Leinwand, von ihren sonnenüberfluteten Kleinbürgerterrassen auf das Treiben im Hafen, dessen Kräne viel zu oft ruhen. Vorbei an Touristenklischee, Sozialmief, Eventkultur und Baufieber schickt Marseille mit einem klug zusammengestellten Programm sich an, sein Image neu zu richten.
Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Fassung des Textes war ein Foto dargestellt, das französische Polizisten in Marseille zeigt. Die Bildunterschrift erweckte den Eindruck, dass die Beamten aus Sicherheitsgründen in Gruppen unterwegs seien. Tatsächlich begleiteten die abgebildeten Polizisten die Evakuierung von mehr als 4.000 Einwohnern anlässlich der Entschärfung einer amerikanischen Fliegerbomber aus dem Zweiten Weltkrieg . Dank bildblog.de haben wir diese irreführende Berichterstattung berichtigen können, indem wir das Foto entfernt haben.