Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele:Zum Trost

Die Konzertwoche der Salzburger Festspiele ist dem Totengedenken gewidmet und sucht die Bewältigung der Trauer im Ungewohnten.

Von Reinhard J. Brembeck

Verlässt der Reisende den Salzburger Bahnhof, sieht er am anderen Ende des Vorplatzes ein seltsam schmuckloses Betongebilde, einen überdimensionalen Tisch, dem ein Bein ganz fehlt. Ein anderes Bein, das sieht der Reisende erst beim Näherkommen, endet in einem bandagierten Metallkopf, der die ganze Tischplatte zu tragen scheint. Dieses umstrittene und sogar verspottete Monument ist schlicht und beunruhigend, Heimo Zobernig hat es 2002 geschaffen. Auf der Unterseite der Platte ist ein Schuldeingeständnis der Stadt eingraviert, zuletzt steht ein Aufruf, sich dem Faschismus zu widersetzen. Vom Salzburger Bahnhof wurden während der deutschen Besatzungszeit Menschen in die Vernichtungslager deportiert.

Die den Salzburger Festspielen vorgeschaltete Ouverture spirituelle setzt ebenfalls bei der Erinnerungskultur an, für die es noch mehr Beispiele im Stadtbild gibt. Das ist schon auffällig, zumal sich deutsche Städte kaum so offensiv zur Schuld bekennen. Aber auch in Salzburg gibt es noch etliche Straßennamen, die an Nazis erinnern. Am kommenden Sonntag will der dortige KZ-Verband/Verband der Antifaschisten den Herbert-von Karajan-Platz, der Mann trat nicht nur einmal in die NSDAP ein, in einer symbolischen Kunstaktion umbenennen, der neue Name wird erst bei der Zeremonie verkündet.

Die Konzertwoche wird im Gegensatz zum Hauptprogramm auch von Einheimischen besucht

Der Pianist und Manager Markus Hinterhäuser leitet die Festspiele jetzt im fünften Jahr. Hinterhäuser hat schon immer ein Faible gehabt fürs Sinnstiftende, Widerständige, Moderne, Ungewohnte, Spirituelle. Die Konzertwoche wird im Gegensatz zum Hauptprogramm auch von vielen musikinteressierten Einheimischen besucht, passt sie doch bestens zu dieser mit Kirchen durchsetzten Hochburg der Gegenreformation. Sie ist eine der genialen Erfindungen von Hinterhäusers die Kunst- wie Finanzgrenzen sprengendem Vorgänger Alexander Pereira, aber sie entfaltet jetzt erst ihre volle Strahlkraft. Auch wenn gerade nicht Hinterhäusers Lieblingskomponisten, allen voran Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen, auf dem Programm stehen.

Die diesjährige Ouverture hat sich dem Totengedenken verschrieben. So wie in den vier hier beschriebenen grandiosen Konzerten, die mit vielen unbekannten Meisterstücken an zwei Tagen in Kollegienkirche und Mozarteumssaal nicht nur die Zeiten vom Mittelalter bis zur Moderne durchwandern, sondern auch die entferntesten Zonen Europas. So traf mit dem von Jordi Savall mit sehrender Inbrunst dirigierten Totenoffizium von Cristóbal de Morales spanische Renaissancetrauer auf byzantinisch-orthodoxe Ewigkeitsbetrachtungen, die Dirigent Teodor Currentzis mit zwei Chorformationen seiner "musicAeterna"-Truppe in einem zweistündigen, pausenlosen Konzert bis nach Mitternacht bei Kerzenschein intonieren ließ.

Neben der mittelalterlichen Alleskönnerin Hildegard von Bingen waren auch der neapolitanische Barockmeister Antonio Lotti und der moderne Großmeister György Ligeti vertreten. Aber die meisten Komponisten dürften nur die allerwenigsten im Westen kennen. Ganz egal, ob die Stücke von Andreas Moustoukis, Balasios Iereus oder Iakobos Peloponnesios Protopsaltes stammen, immer drückt sich da eine ruhige und völlig undramatische Spiritualität aus, die so gar nichts gemein hat mit dem für Salzburg typischen Barockexpressivität. Entsprechend verhalten und ratlos reagierte das Publikum dann weit nach Mitternacht.

Bei allen anderen Stücken war der Beifall begeisterter. Vor ein paar Jahren hat sich der Pianist Igor Levit mit Frederic Rzewskis einstündigem "The People United Will Never Be Defeated" einen Riesenerfolg erspielt. Jetzt legt er mit der noch unbekannteren "Passacaglia on DSCH" ein mit 90 Minuten noch längeres Stück nach, ein maßloses und das Publikum begeisterndes Klavierfeuerwerk, virtuos, politisch, zärtlich, visionär, explosiv, grundlegend tonal und nie versponnen rätselhaft. Der Komponist ist Ronald Stevenson (1928-2015), der mit dem laut Programmheft dreihundertmal wiederholten Vier-Ton-Motiv D-Es-C-H seine Verehrung für den von den Sowjets oft bedrängten Dmitri Schostakowitsch komponiert. Gleichzeitig konkurriert er mit großen Klavierkomponistenvirtuosen wie Liszt, Alkan, Busoni und bringt viel Barock und Bach ein, bis hin zu einer 20-minütigen Trippelfuge, die zuletzt das schon von Hector Berlioz ausgeschlachtete gregorianische "Dies irae" einarbeitet, mit der Stevenson der sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden gedenkt. Ein dunkel langsames "Adagissimo barocco" wird immer lauter und gehämmerter und fanalhafter. Es beschließt dieses Wunderwerk, dem Igor Levit, die Salzburger Festspiele und ein begeistert jubelndes Publikum größte Aufmerksamkeit verschaffen.

Messiaen war Katholik und Synästhesist, Vogelkundiger und Indienfan, Farben- und Klangorgienliebhaber

Ganz anders, viel moderner und vor allem jenseits der alten Dur-Moll-Harmonik gehen Olivier Messiaen und John Adams mit der Trauer um. Messiaen ist gleich zweimal vertreten. Das für Bläser und Schlagwerk konzipierte "Et expecto resurrectionem mourtuorum" beklagt die Weltkriegsopfer, es entfaltet bei Dirigent Pablo Heras-Casado eine strenge innere Wucht. Die aufspleißend scharf ins Ohr schneidenden Klänge, die apokalyptischen Schlagzeugeruptionen werden durch die hallige Akustik der Kollegienkirche weniger abgemildert, als zu einer weltumfassenden Klage und Anklage verdichtet. Heras-Casado verbindet Nüchternheit mit Ekstase. Das ist ein modernerer Ansatz als ihn die von Klarinettist und Komponist Jörg Widmann angeführte Truppe in Messiaens "Quatuor pour la fin du temps" vorlegt, es ist eines seiner erfolgreichsten Stücke.

Messiaen war Katholik und Synästhesist, Vogelkundiger und Indienfan, Farben- und Klangorgienliebhaber. Als Kriegsgefangener in Schlesien komponierte er 1941 mit dem "Quatuor" eine achtsätzige Lebensfeier, einen Jesusjubel, eine Klangliturgie. Geigerin Alina Ibragimova, Cellist Nicolas Altstaedt und am wenigsten Pianist Francesco Piemontesi setzten wie Widmann auf den ganz großen expressiven Ausdruck, dem jede Distanz fern ist. Das ist altmeisterlich überwältigend, es bringt aber auch einen Schuss Kitsch mit ins Spiel, vor dem Messiaen nie ganz gefeit ist. Und es ist diametral dem Ansatz des Streichquartetts Meta4 entgegengesetzt, das John Adams Shoa-Studie "Different Trains" kühler, überlegter und distanzierter angehen. Dieser Ansatz, der sehr viel zeitgemäßer wirkt, geht mit Adams unermüdlichen Klangrepetitionen, seiner Maschinenästhetik und den Tonbandzuspielungen wunderbar zusammen. Das Stück erinnert von seinem Thema (den in die Todeslager fahrenden Vernichtungszüge) und in seiner emotional unterkühlten Trauerarbeit an Heimo Zobernigs Antifa-Denkmal vor dem Bahnhof. Vielleicht lässt sich der größte Schrecken eben nur jenseits gängiger Emotionalität künstlerisch bewältigen.

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