Mark Twain: 100. Todestag:Unter Blutsbrüdern

Wer versucht, eine Moral darin zu finden, wird des Landes verwiesen: Mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn schuf Mark Twain Helden, die Kinder im Voraus von allen Sünden freisprachen.

C. Schmidt

"Tom!" Keine Antwort. "TOM!" Keine Antwort. "Ich möchte bloß mal wissen, was wieder mit diesem Jungen los ist. TO-HOM!" Mit diesen Worten beginnt Mark Twain seinen Roman "Tom Sawyers Abenteuer". Der Titelheld wird von seiner Tante Polly gerufen, aber er kommt nicht. "Hat man je einen solchen Teufelsbraten von Jungen gesehen?" seufzt die alte Dame, in deren Obhut das Waisenkind aufwächst.

Tom Sawyer, Getty

Wer will solche Jungs nicht zum Bruder haben: Tom Sawyer und Huckleberry Finn schwänzen die Schule und delegieren ihre Strafaufgaben an andere.

(Foto: Foto: Getty)

Nein, um Tante Pollys Frage zu beantworten, so einen Teufelsbraten von Jungen hatte man bislang noch nicht gesehen, jedenfalls nicht in der erzählenden Literatur der damaligen Zeit. Der stets zu Streichen und romantischen Abenteuern aufgelegte Tom Sawyer war von Anfang an als Anti-Musterknabe angelegt, das Gegenbild zu seinem angepassten Halbruder Sid.

Kein Motiv, keine schlüssige Handlung

Eine Absage an die didaktische Erbauungsprosa der Kinder- und Jugendbücher seiner Zeit wollte Mark Twain schreiben, als er 1870 mit der Arbeit am Roman begann. Und so heißt es in der Vorbemerkung zu der acht Jahre nach "Tom Sawyer" erschienenen Fortsetzung "Huckleberry Finns Abenteuer" programmatisch: "Wer versucht, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, wird gerichtlich verfolgt; wer versucht, eine Moral darin zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen. Auf Befehl des Autors, durch G. G., Chef der Artillerie."

Wie konsequent Mark Twain seinen Vorsatz schon von der ersten Zeile des Doppelromans an ins Werk setzte, zeigt die erste Szene: Ein Kind wird von einem Erziehungsberechtigten gerufen, und es verweigert sich. Was für ein Auftakt für ein Jugendbuch! Denn auch das andere Kind, das nämlich, das diese ersten Sätze liest, wird vom Erzähler vor eine Entscheidung gestellt: Bleibt es diesseits des Gartenzauns, im Schutzraum der Familie, oder zieht es hinaus ins Freie, überschreitet die Schwelle zum Erwachsenwerden, für die der Zaun steht?

Kindertümelnd verbrämte Propaganda

Natürlich jagt, wer nur ein Herz besitzt, diesem sagenhaften Tom hinterher, der zunächst gar nicht auftritt, der eine Leerstelle ist, ein abwesender Gott. Einen Jungen, der so frech der Strafe trotzt, um, kaum dem einen Ungemach entronnen, als nächstes die Schule zu schwänzen und dabei "viel Spaß" zu haben und der auch danach keineswegs reumütig nach Hause kommt, sondern gleich wieder Zucker stibitzt, ja selbst den Strafdienst, den er sich durch seine fortwährenden Schandtaten eingebrockt hat, das Streichen des 25 Meter langen Bretterzauns, lukrativ delegiert und damit Tante Polly erneut hinters Licht führt - einen solchen Jungen, den will, den muss man kennenlernen, dessen Blutsbruder möchte man sein.

So hatte, wer nach der ersten Seite das Buch nicht aus der Hand legte, die unbeschwerte Kindheit hinter sich gelassen. Mark Twains Ruf lockte dabei in ein doppeltes Abenteuer, das des Lebens und das des Lesens. Denn hier war ein Buch, das einem endlich einen Grund gab, gelesen zu werden, das einen buchstäblich da abholte, wo man verwirrt, voller Unruhe und etwas mutlos stand. Wer sich etwa schwer tat, lesen zu lernen, dem zeigten Tom und sein Freund Huck, warum sich die Mühsal trotzdem lohnt: dass das Alphabet nicht nur eine sadistische Erfindung der Erwachsenen war, um einen vom Spielen abzuhalten, zu domestizieren und empfänglich zu machen für all die Einflüsterungen der pädagogischen, kindertümelnd verbrämten Propaganda, mit der man in der Schule und im Elternhaus traktiert wurde. Gab es wirklich nichts anderes?

Doch, es gab ein Buch, das einen im Voraus freisprach von allen Sünden, wenn es etwa heißt, "Tom ging ohne die zusätzliche Plage des Betens ins Bett". Und das einen Huckleberry Finn am Ende seiner Abenteuer sich nicht vereinnahmen lässt, wenn er sagt: "Ich schätze, ich hau noch vor den anderen ins Indianer-Territorium ab, weil Tante Sally mich adoptieren und zivilisieren will, und das halte ich nicht aus. Das hatte ich schon mal."

Im Gegensatz zum sonnigeren Tom, der sich letzlich doch für eine bürgerliche Existenz entscheidet, hat Huck zu viel erlitten, um noch an ein geordnetes Leben zu glauben. Doch von ihnen beiden hält Twain das Böse nicht fern, er versucht seine Helden gar nicht erst zu beschützen. Dazu nimmt er sie zu ernst: Während Tom gleich mehrmals im Buch seinen symbolischen Tod und seine Wiederauferstehung erlebt, bleibt Huck ein Außenseiter. Wenn der Eingang zur Höhle, in der sich Tom und Becky verirrt hatten, schließlich mit einer Tür versperrt wird, bedeutet dies, dass er aus dem Labyrinth des Heranwachsens herausgefunden hat. Hucks Platz im Leben bleibt indessen der Fluss, der Unort zwischen den Ufern. "Wir fuhren einfach weiter und legten nicht an", heißt es in seiner Geschichte. Und das Nichtankommen wird zu seiner Lebensform.

Am Ende muss sich der Leser noch einmal entscheiden: Geht er mit Huck in den Westen, in die Wildnis, oder folgt er Tom nach St. Petersburg, in die Stadt? Diese Entscheidung aber führt über das Buch hinaus. Es endet dort, wo die Kindheit selbst endet. "Sie waren doch froh, Wilde geworden zu sein, denn sie machten eine neue Erfahrung", heißt es über diese Zeit.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: