Süddeutsche Zeitung

"Mariss Jansons - The Edition":Helle Freude

16 Jahre lang war Mariss Jansons der empathische Chefdirigent der BR-Symphoniker. Eine opulente CD-Box versammelt Aufnahmen aus dieser Zeit. Darunter wahre Highlights.

Von Helmut Mauró

Der Dirigent Mariss Jansons war beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) so beliebt, ja geliebt wie kaum einer seiner Vorgänger. 16 Jahre lang, von 2003 bis zu seinem Tod 2019, war er Chefdirigent der BR-Symphoniker. Jetzt hat der BR auf 70 CDs eine Großedition herausgebracht. Sie zeigt den äußeren Glamour des Orchesters und die innere Größe des Dirigenten. Repertoireschwerpunkte sind die deutsche und die russische Romantik, von Franz Schubert bis Richard Strauss, von Peter Tschaikowsky bis Dmitri Schostakowitsch. Zeitgenössisches findet kaum statt, Wolfgang Rihms "Requiem-Strophen" stehen da etwas verloren für sich. Historische Aufführungspraxis und Originalklang gehören ebenfalls nicht zur Tradition des BRSO, Schuberts G-Dur-Messe muss man heute klanglich nicht mehr so dick auftragen. Es steht einfach zu sehr der Schubertschen Ästhetik entgegen, die auf edle Schlichtheit setzt. Wenn man dann Solisten im Opernformat auffährt, sind konzeptuelle Unfälle unvermeidlich. Selbst wenn die Diva und der Buffo sozusagen um die Ecke denken und große Innerlichkeit zur Schau stellen, wirkt das kaum überzeugend.

Das sind gleichsam die negativen Seiten einer Tradition. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist ja längst ein Traditionsorchester geworden. Nicht weil es besonders alt ist - es wurde ja erst 1945 als solches gegründet, sondern weil es sich wie andere Spitzenensembles auch um die eigene Identität aktiv kümmert. Diese Identität kann nichts anderes sein als ein spezifischer Klang, und ihn zu bewahren oder zu entwickeln, bedeutet, sich selbst um den Nachwuchs zu kümmern und begabte Musikstudenten in eigenen Akademien an das Orchester heranzuführen. Dies tut der BR seit einigen Jahren sehr erfolgreich.

In der "Rosenkavalier-Suite" ersteht bei ihm eine versunkene Epoche wieder auf -wehmutsvoll, nicht reaktionär

Wie sehr sich dennoch der Klang und die Grundhaltung eines Orchesters unter ihren Dirigenten wandeln können, zeigt beispielhaft die Aufnahme der "Rosenkavalier-Suite" von Richard Strauss, eines der Paradestücke von Jansons Vorgänger Lorin Maazel. Der stellte hierbei die Eleganz des Stücks durch seine kongenial elegante Dirigierweise heraus, während Jansons sich hier in die Musik versenkt wie in einen großen anachronistischen Traum, eine wunderliche Wiederkehr einer versunkenen Epoche.

Und genau das ist ja diese Musik. Sie symbolisiert nicht nur, sie verkörpert nicht nur im Sinne eines ästhetischen Verweises, sondern ihre Wirkung entsteht gerade dadurch, dass sich der Hörer in eine Zeit versetzt fühlt, die er nur noch vage, inzwischen vielleicht gar nicht mehr kennt, die aber mit starken Gefühlen der Wehmut verbunden ist. Also nicht mit Sehnsucht nach Wiederkehr der Zeiten, sondern mit einer Akzeptanz, die noch emotional aufgearbeitet werden muss. Deshalb klingt dieses Stück enttäuschter Liebe, das ja auch ein großer Abschied vom Glamour des Kaiserreichs ist, gerade bei Jansons so wenig politisch reaktionär, und so sehr versöhnlich.

Ganz offensichtlich tritt da eine andere Haltung zutage, die auf andere Traditionen verweist. Und die führen nach Sankt Petersburg, wo Jansons Vater Arvid 1952 Assistent des legendären Jewgeni Mrawinski bei den Leningrader Philharmonikern wurde. Wenn es eine russische Art zu dirigieren gibt, dann zeichnet sie sich wohl weniger durch Spontaneität und die Suche nach Extremen um jeden Preis aus, sondern durch eine durchdachte Dramaturgie, die jedoch geradezu körperlich durchfühlt und umgesetzt wird. Das sieht nicht immer elegant aus, soll es wohl auch nicht. Die polierte Oberfläche soll bestenfalls Ergebnis eines tiefergehenden Verständnisses sein, nicht Selbstzweck und schon gar nicht letzter Sinn einer Komposition. Es geht also nicht um Schönklang, sondern darum, die Möglichkeiten klanglicher Gestaltung in den Dienst einer umfassenden Dramaturgie des Ausdrucks zu stellen. Ob die Musiker des BR-Symphonieorchesters das immer genau so empfunden haben, ist nicht sicher. Aber sie lieferten für Jansons perfekte Voraussetzungen, indem jeder einzelne größten Ehrgeiz darauf verwandte, auf seinem Instrument der Beste zu sein. Natürlich in der Hoffnung, dass die Summe der Einzelnen größer sei als die schiere Addition ihrer Fähigkeiten. Für diesen erwünschten und auch nötigen Mehrwert ist der Dirigent verantwortlich. Zumal wenn er Chefdirigent ist und also auch als Orchestererzieher wirkt, die Musiker mehr oder weniger subtil seine Klangsprache lehrt.

Und Freude bedeutet für Jansons zuallererst: klangliche Opulenz, Überraschungen, Knalleffekte. Kindergeburtstag für die Großen. Es ist kein Zufall, dass ihm Stücke wie "Till Eulenspiegels lustige Streiche" so hinreißend perfekt gelingen. Dass der Hornist das Einstiegssolo nicht versemmelt, ist eine Sache, aber wie Jansons in diesem Stück geradezu aufblüht, wie er jeden dramatischen Schritt mitlebt und mit ihm das ganze Orchester, ist schier einmalig in der Rezeptionsgeschichte dieses Werks. Mit kindlicher Naivität freut er sich über jeden unerwarteten Schlagzeugeinsatz, genießt die solistischen Einlagen einzelner Orchesterinstrumente. Aber ebenso kindlich bewahrt er sich eine Liebe zu dieser Musik, die ihn vor allzu brutalen Aktionen zurückschrecken lässt. Das fratzenhaft Verzerrte, das viele Dirigenten hier geradezu wollüstig strapazieren, findet man in dieser Live-Aufnahme von 2009 nicht. Gleiches lässt sich über Jansons Einspielung von Franz Schuberts großer C-Dur-Symphonie sagen.

Auch hier überstürzt er nichts, hält die wirbelnden Pauken in Zaum, liest in Schuberts Partitur eher den Wiener Klassiker und zaghaften Frühromantiker, keinen exzentrischen Hochromantiker. Das kommt gerade dieser Symphonie sehr zugute, die so oft in lautstarkes Lärmen getrieben wird. Was in der Regel dazu führt, dass man weniger Details hört und damit überhaupt weniger. Dieses Paradoxon ist ein genuin musikalisches. Je lauter die Musik spielt, umso weniger hört man. Nun ist Jansons zwar kein Mann der leisen Töne, das könnte er mit diesem stets kraftvoll auftrumpfenden Orchester auch kaum sein, aber er sucht sein musikalisches Heil jedenfalls nicht in den Extremen. Er weiß um die heikle Balance von Ausdruck und Übertreibung, von reißerischer Dramatik und wirklicher Intensität.

Die Erzähldramatik kommt aus einem inneren Kern, einer Glut der musikalischen Überzeugung

Ein gutes Beispiel dafür ist sicherlich Anton Bruckners Siebte, ein Konzertmitschnitt aus dem Großen Saal des Musikvereins in Wien vom November 2007. Diese Symphonie verlangt ja nun wirklich einen langen Atem. Der sollte nicht nur für den zwanzigminütigen ersten Satz und das ebenso lange Adagio reichen, sondern für das ganze Stück. Mehr als eine Stunde höchster Konzentration ist da gefragt, um höchste Spannung zu erreichen und zu halten. Die Gefahr ist riesig, ins Schleppen und Verschleppen zu geraten. Die Vorschriften "sehr feierlich", "sehr langsam", "etwas langsamer", "nicht zu schnell" verleiten dazu. Jansons begegnet dieser Gefahr schon dadurch, dass er es wirklich sehr genau nimmt mit dieser Partitur. Er meidet das Wuchtige, das man gemeinhin mit Bruckner verbindet, die großen Klangwolken, die pauschale Blockabfertigung ganzer Abschnitte. Stattdessen: fein ziselierte Einzelstimmen und Klangfarben, deutlich voneinander abgegrenzt, geschärftes Profil allenthalben. Selbst kleine kontrapunktische Einschübe sind als solche identifizierbar. Und über allem eine himmlisch schwebende Streichermelodie, die das Ganze mehr überstrahlt als zusammenhält. Das muss sie auch nicht, denn der Zusammenhalt und damit auch die ganze Erzähldramatik kommen aus einem inneren Kern, einer Glut der musikalischen Überzeugung von nahezu Wagnerschem Ausmaß.

Notabene: Es gibt wahre Highlights in dieser großformatigen Edition. Die optische Aufmachung allerdings gehört nicht dazu, weder das erstaunlich unscharfe Cover-Foto noch die vielen verunglückten CD-Cover und schon gar nicht der geviertelte grobe Plastikeinsatz für die CDs. Bis in Inhalt, Bildgestaltung und Layout des umfänglichen Begleitbuchs hinein herrscht hier eine ästhetische Anmutung der 1980er-Jahre, um es mal positiv zu sagen, die der musikalischen Ästhetik, zumal dem Niveau der Aufnahmetechnik, nicht gleichkommt. Denn die ist, selbst bei Live-Mitschnitten, allemal beeindruckend.

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