"Lichtregen", die Essays von Marina Zwetajewa:Spricht da Gott?

"Lichtregen", die Essays von Marina Zwetajewa: Der Zauber der Dichtung sei älter als die Erfahrung, schrieb die russische Dichterin Marina Zwetajewa. 1892 in Moskau geboren, starb sie 1941 in Tatarstan.

Der Zauber der Dichtung sei älter als die Erfahrung, schrieb die russische Dichterin Marina Zwetajewa. 1892 in Moskau geboren, starb sie 1941 in Tatarstan.

(Foto: imago stock&people)

Die Essays der russischen Dichterin Marina Zwetajewa über poetische Freundschaften, Mäzene und Magnaten ihres Lebens sind auch eine Literaturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts.

Von Helmut Böttiger

Die Leidenschaft ist von ihr geblieben, sie war als Mensch und Dichterin leidenschaftlich. Und genau das macht sie auch lange nach ihrem Tod noch zu einem Mythos. Marina Zwetajewa stand für absolute Hingabe, und ihre Gedichte bewegten sich in einer Tradition, die in dieser pathetischen Form nur in Russland existierte. Ihr Klang, der Sog, dieses Ineinanderverwobensein von Binnen- und von Endreimen ist nur sehr schwer ins Deutsche zu übertragen. Ein dickleibiger Band mit ihren Essays und Erinnerungen, der jetzt als zweiter Teil ihrer Gesammelten Werke auf Deutsch erscheint, eignet sich hervorragend dazu, den Hintergrund ihres sehr besonderen Schreibens zu erhellen.

Zwetajewas Laufbahn begann vielversprechend. Ihren ersten Gedichtband veröffentlichte sie 1910 als 18-Jährige, dann kam ihr die Oktoberrevolution dazwischen. Sie lebte lange in Paris, wo sie sich mühsam als Schriftstellerin über Wasser zu halten versuchte - die meisten der hier versammelten Texte sind Zeugnisse davon -, und die verzweifelte Rückkehr in die Sowjetunion 1939 erwies sich als fatal. 1941 wurde sie nach Jelabuga in Tatarstan evakuiert und brachte sich dort um.

Zwetajewa sprach mehrere Sprachen, sie wuchs auch mit Französisch und Deutsch auf und entwickelte in den Zwanzigerjahren zum Beispiel ein äußerst affektives Briefverhältnis zu Rainer Maria Rilke. Doch vor allem lebte sie auch im Exil weiter im Russischen und erinnerte sich in ihren großen poetischen Jahren zwischen 1911 und 1922, als sie die Sowjetunion verließ, immer lebhafter an die Zeitgenossen.

Zu großer Form läuft sie auf, wenn sie die Lyrik des Funktionärs aufs Korn nimmt

Am deutlichsten zeigt sich das in ihrem Porträt des längst vergessenen Literaturbetriebsmagnaten Walerij Brjussow. Den Typus des reinen Literaturfunktionärs gab es damals noch nicht, da waren es hauptsächlich mittelmäßige Schriftsteller, die sich auf das Organisieren verlegten und wichtigtuerisch Gremien und Jurys in Beschlag nahmen.

Zwetajewa zeigt den Charakter Brjussows mit einem besonderen stilistischen Zangengriff. Anrufungen einer großen, alle Beschränkungen hinter sich lassenden Dichtung stehen neben satirisch zugespitzten Beobachtungen. Ihre Schilderung eines von Brjussow ausgerichteten "Abends der Dichterinnen", bei dem sie ebenfalls dabei war, ist sehr pointiert, und es läuft als ein bezeichnender Nebeneffekt mit, wie sie dabei auftritt, mit ihren grauen Filzstiefeln und ihrem "grünen, talarartigen Etwas", das mit einem "Fahnenjunkergürtel aus der 1. Peterhofer Offizierschule" gegürtet war.

Und sie läuft zur Hochform auf, wenn sie Brjussows symbolistische Lyrik aufs Korn nimmt. Zeilen wie "Voran, mein Traum, du treuer Ochse" führen sie dazu, die Bodenhaftung des Dichters zu entlarven, die "Ochsentour" seines dichterischen Wollens bloßzustellen und seine sofortige Hinwendung zum Bolschewismus zu erklären.

"Lichtregen", die Essays von Marina Zwetajewa: Marina Zwetajewa: Lichtregen. Essays und Erinnerungen (Gesammelte Werke Band 2). Hg. von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag Berlin 2020, 902 Seiten, 44 Euro.

Marina Zwetajewa: Lichtregen. Essays und Erinnerungen (Gesammelte Werke Band 2). Hg. von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag Berlin 2020, 902 Seiten, 44 Euro.

In ihren Porträts geht es außerdem um den exzentrischen Andrej Belij, den Dandy Michail Kusmin mit seinen "glasgroßen Augen" und in einem expressiv stilisierten Vergleich um Boris Pasternak und Wladimir Majakowskij. Als sie 1932 vom Tod ihres großen Förderers Maximilian Woloschin erfährt, entfaltet sie in ihrem Erinnerungstext "Lebendes über einen Lebenden" ein ganzes poetisches Programm.

Sie preist die "Freundschaftsfähigkeit" und das Absolute - Woloschin hatte sie als junge Dichterin 1911 zum ersten Mal in sein Haus in Koktebel auf der Insel Krim eingeladen, das für Zwetajewa zum Elysium werden sollte. Dort traf sie 1915 auch Ossip Mandelstam, der in Deutschland erst sehr viel später durch Paul Celan und Ralph Dutli berühmt wurde.

Eines der beiden Prosastücke, die sich um Mandelstam drehen, wirkt zunächst wie eine merkwürdige, poetisch hingeworfene Etüde, wie um sich einzelne Szenen fragmentarisch in Erinnerung zu rufen. Der Besuch Mandelstams bei Zwetajewa auf deren Familienstammsitz im binnenrussischen Alexandrow erscheint kindlich entrückt und sprunghaft, wie eine groteske Imagination, und erst spät wird deutlich: Sie wehrt sich gegen einen Feuilletonisten, der in einer Lebensbeschreibung Mandelstams nicht durchschaut hat, dass einige der Liebesgedichte Mandelstams eindeutig auf Zwetajewa bezogen sind.

Ganz anders ist ein polemischer Entwurf, den sie 1925 impulsiv nach der Lektüre von Mandelstams Prosabuch "Im Rauschen der Zeit" verfasst. Hier wirft sie ihm vor, sich an die Bolschewiki anzubiedern, weil er sich nicht eindeutig zu ihrer Partei, den "Weißen", bekennt.

Alle selbstgewissen Theoretiker sind ihr ein Dorn im Auge

Zwetajewa kann sprunghaft und unberechenbar sein, einzelgängerisch und voller Widersprüche, rebellisch und unwiderstehlich. Sie beschwört den "Zauber" der Dichtung, denn der Zauber sei "älter als die Erfahrung". Und genauso sei das "Märchen älter als die Geschichte". Dass sie sich so vehement gegen zeitübliche Forderungen an die Literatur wehrt, liegt vermutlich an der Art, wie sie an ihre Daseinsform herangeführt wurde. Einmal formuliert sie apodiktisch, wie als Beweis: "Eine Dreijährige, die zum ersten Mal einen leibhaftigen Dichter hört, fragt die Mutter: 'Spricht da Gott?'"

Alle selbstgewissen Theoretiker sind ihr ein Dorn im Auge, vor allem die pragmatisch-geltungssüchtigen Funktionäre im Exil wie in Russland selbst. Angesichts häufiger Funktionszuweisungen an die Literatur und deren Lesarten mutet es fast aktuell an, wenn sie eine Abrechnung mit moralischen Kriterien vornimmt, wie sie seit Tolstoi oft an die Literatur angelegt werden. Ihre Vorstellungen kreisen dagegen um "Getriebenheit", um die Gesetze der Sprache und des Stoffs, und sie schreibt: "Das Einzige, was die Kunst tun könnte, um garantiert gut zu sein, wäre: nicht zu sein."

Das Ungestüme an Zwetajewa, das in ihrem Leben zu Affären, mitunter auch mit Frauen, etlichen Verwerfungen und hochgestimmten lyrischen Strophen führte, zeigt sich in diesen oft direkt an den eigenen Erlebnissen entlanggeschriebenen Dichterporträts unmittelbar. Und sie legen nahe, dass Zwetajewa konsequent nach einer Devise lebte, die sie einmal als Argument gegen alle Opportunisten anführt: "Für einen Russen ist, wer zu Lebzeiten nach Ruhm strebt, entweder verächtlich oder lächerlich."

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