Marianne von Willemer:Doch du wirst lieben

Marianne von Willemer: Elisabeth Binder: Im Prinzip Liebe. Goethe, Marianne von Willemer und der West-östliche Divan. Reclam Verlag, Ditzingen 2019. 238 S., Abb., 24 Euro.

Elisabeth Binder: Im Prinzip Liebe. Goethe, Marianne von Willemer und der West-östliche Divan. Reclam Verlag, Ditzingen 2019. 238 S., Abb., 24 Euro.

Der Staub auf der Schwelle der Geliebten, "ist dem Teppich vorzuziehen,/Dessen goldgewirkte Blumen/Mahmuds Günstlinge beknien": Elisabeth Binder erzählt, wie der "West-östliche Divan" entstand.

Von Gustav Seibt

Der Sommer 1814 war heiß und trocken. Goethe, der nach anderthalb Jahrzehnten wieder in seine Heimat fuhr, nach Frankfurt und in den Rheingau, war froh, dass er in einer geschlossenen Kutsche reiste, denn "bei der großen Hitze, dem Staub und dergleichen wäre ich sonst vergangen". Zugleich verfasste er ein Gedicht zum Lob des Staubes. Der Staub auf der Schwelle der Geliebten, "ist dem Teppich vorzuziehen, / Dessen goldgewirkte Blumen / Mahmuds Günstlinge beknien". Da sind wir schon im Orient, bei dem persischen Dichter Hafis, den Goethe seit dem Frühjahr 1814 mit steigender Begeisterung las. Sein Staubgedicht ("All-Leben") entstand in der Kutsche zwischen Frankfurt und Wiesbaden, am 29. Juli. Es erinnert an Gedichte vor 500 Jahren, aber auch an einen Brief, den Goethe am 10. September 1786 aus Italien geschrieben hatte. Nach einem verregneten deutschen Sommer pries er da Trockenheit und Wärme des Südens, und begrüßte freudig den Staub, "der manchmal den Wagen umwirbelt".

Der doppelte Bezug vom Rheingau zum Perser Hafis und nach Italien ist nicht willkürlich, denn für seine Sommerferien 1814 hatte Goethe sich die Redaktion der "Italienischen Reise" aus alten Briefen vorgenommen. Die Reise nach Westen, die berühmte Flucht in den Orient, sie fanden gleichzeitig mit der Erinnerung an eine andere Flucht statt. Goethes Begabung zu Wiedergeburten und Steigerungen - auch das geht ein in das leichtfüßig tanzende "All-Leben". Das ist einer der vielen Funde, die Elisabeth Binder zum 200. Geburtstag des "West-östlichen Divan" ausbreitet. Über den "Divan" weiß man so viel wie über kein zweites Werk Goethes, den "Faust" eingeschlossen. Von den meisten Gedichten kennen wir Tag und Stunde ihrer Entstehung.

Wir wissen, oft seitengenau, was Goethe für sein orientalisierendes Vorhaben gelesen hat. Und wir kennen die lebendigen Anlässe vieler Verse, die nicht nach einem gelehrten Plan entstanden, sondern, in unbegreiflicher Leichtigkeit, am Wegrand, in den Kutschen, in Hotelzimmern, natürlich auch nach anregenden Lektüren am Schreibtisch.

Aus diesem Wissensvorrat ein kurzes, leichtes Buch zu machen, in dem dann auch alles stimmt, das ist eine eigene Leistung. Dabei ist es nicht so, dass nicht auch der Kenner hier Neues erführe - die Parallele zur gleichzeitig entstehenden "Italienischen Reise" war zwar immer bekannt, aber doch nicht recht bewusst, denn auch die Goethe-Philologie hat ihre Schubladen, und da tut sie klassisches Italien und Orient-Anverwandlung eben in unterschiedliche Fächer.

Der zugänglichste Lebenshintergrund des "Divan" ist Goethes über zwei Sommer gehegte Liebe zu Marianne von Willemer. Darauf konzentriert sich Binder. Sie muss nur die Quellen sprechen lassen, um die Unwahrscheinlichkeit dieser gesellig-heiteren und am Ende doch verstörend leidenschaftlichen Wochen vorzuführen. "Doch du wirst lieben": Das hatte Goethe schon ganz am Anfang der Reise gedichtet, bevor er Marianne überhaupt gesehen hatte, und sich als "muntrem Greis" Mut zugesprochen für ein Abenteuer. Dass es so beglückend ausfallen würde, mit einer dichterischen Wechselrede, bei der die geliebte Frau zwei der allerschönsten Gedichte des "Divan", je eins an den Ostwind und den Westwind, beisteuerte, hat bis heute etwas von einem Wunder.

Daran knüpft sich der einzige Einwand gegen Binders Büchlein: Es vermutet und psychologisiert zu viel; der Tonfall des erklärenden Kommentars greift auf eine lebensgeschichtliche Konstellation über, als sei diese selbst ein Gedicht. Und dabei zeigt sich ein ewiges Gesetz aller Goethe-Literatur: Wer glaubt, auktorial in den Kopf dieses Menschen schauen zu können, macht ihn kleiner als er ist. Am nächsten kommt man ihm, wenn man ihn hört, mit allem verfügbaren Wissen, aber ohne dazwischenzureden. Es mag paradox klingen: Auch bei Goethes Leben sollte der Biografismus hinter die Texte zurücktreten. Überzeugend ist Binder immer da, wo sie literarische und lebensgeschichtliche Hintergründe zart scheidet. Die Poesie des "Divan" fliegt über ihre Anlässe hinweg, das macht sie so hinreißend.

Natürlich kann Binder nicht den ganzen "Divan" erschließen. Dessen politische Seite, die Abstandnahme von einer verstörenden Zeitgeschichte, kommt nur knapp zu Wort. Seine polemisch-lehrhafte Seite - Buch des Unmuts, Buch der Sprüche - fehlt. Nichts zum Prosateil. Das religiöse Thema, Sonnenanbetung, Naturreligiosität, fängt Binder immerhin in einem schönen Exkurs zu Goethe als poetischem Morgenmenschen ein. Doch das sind kleine Einwände. Das kurze Buch ist die derzeit beste Anregung, sich in den "Divan" neu zu verlieben.

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