Süddeutsche Zeitung

Marian Offmans Roman "Mandelbaum":Eine große Kälte in meinen Gedanken

Der erste Roman des Münchner Lokalpolitikers Marian Offman gibt tiefe Einblicke in das jüdische Leben nach der Shoah - und in Albträume, ob es vielleicht gar nicht möglich ist.

Von Joachim Käppner

Manchmal nahm der Vater seinen kleinen Sohn mit zu Freunden: "In der kleinen Wohnung seiner Freunde spielte jemand auf der Geige und fast alle Männer und Frauen hatten Tränen in den Augen oder weinten offen. (...) Sie sprachen Jiddisch, nannten mich Jingele, umarmten mich und fuhren zärtlich durch mein Haar. Einige sangen zur Melodie der Geige, leise und langsam. Plötzlich begann eine junge Frau laut zu schreien. Dann ein bebendes Schluchzen, sie rief fortwährend nach dem gleichen Namen und sank zusammen. Mein Vater führte mich schnell in ein anderes Zimmer."

München in den frühen Fünfzigern. In der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung", der Brutstätte des Nationalsozialismus, gibt es wieder eine jüdische Gemeinde. Niemand hätte 1945 für möglich gehalten, dass im Land der Mörder jüdisches Leben noch einmal möglich sein würde, und doch beginnt es wieder, in beiden deutschen Staaten, weil manche es wagen, weil der Zufall sie aus ihrer verlorenen Heimat hierhin verschlägt oder sie schlicht nicht die Kraft haben fortzugehen. Und das ist auch das Thema, das sich durch den gesamten Roman "Mandelbaum" von Marian Offman zieht: das Leben der jüdischen Deutschen nach dem Holocaust, Nähe und Entfremdung, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und immer wieder aufkommende Zweifel, ob eine solche jemals möglich und von Dauer sein kann.

Die Shoah dominiert das Empfinden, während große Teile der nichtjüdischen Umwelt davon bereits nichts mehr sehen und hören wollen

Münchner Lesern ist Offman, 1948 in der Stadt geboren, wahrscheinlich bekannt: Er gehörte jahrzehntelang zum Vorstand der jüdischen Gemeinde und war 2002 bis 2020 ein sehr aktiver Stadtrat, und zwar in der CSU-Fraktion. Gleichzeitig engagierte er sich gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Nazis, Pegida und Rassismus, setzte sich für Flüchtlinge ein und für ein gutes Miteinander jüdischer und muslimischer Menschen. Nicht wenige seiner CSU-Parteifreunde hat das oft überfordert, um es sehr höflich zu sagen. Marian Offman erwies sich dabei meistens als konstruktiver Querkopf, was gewiss nichts mit Querdenkertum zu tun hat.

"Mandelbaum" ist ein stark autobiografisch gefärbtes Buch. Reine Fiktion ist nur die Rahmenhandlung: Bei einer Demonstration von Neonazis auf dem Münchner Odeonsplatz, eben dem Platz, auf dem Adolf Hitlers Putschversuch 1923 im Feuer der bayerischen Polizei zusammenbrach, kommt es zu Tumulten. In vorderster Reihe der Gegendemonstranten steht Offmans Alter Ego Mandelbaum, er wird von hinten gestoßen, seine schwere Kamera, mit der er Fotos von den Rechtsextremen macht, löst sich und knallt mit Wucht an den Kopf von "Hintermoser", einem stadtbekannten Nazi, der daraufhin zu Boden sackt und ins Koma fällt. Mandelbaum wird festgenommen und verbringt die Nacht in einer Zelle der Münchner Polizei.

"Am besten schweigen, denke ich, jedes Wort kann falsch sein. Es fällt mir schwer, nicht nach Beweisen zu fragen und nicht die bekannte Nähe von Beamten zu Rechten auszusprechen. Das ist nicht mehr mein Land, das ist Täterland. Eine große Kälte kommt in meine Gedanken."

So liegt er schlaflos auf einer stinkenden Matratze, und sein Leben zieht an ihm vorbei. Die Konstruktion dieses Romans erscheint nur auf den ersten Blick arg gewagt, sie funktioniert aber von Seite zu Seite besser: Was in dieser Nacht in Mandelbaums Kopf vorgeht, ist eine Art Wach-Albtraum - und womöglich nicht fern von den tief sitzenden, oft tief ins Unterbewusste verschobenen Ängsten von Menschen wie Marian Offman. Menschen, die sich einsetzen für den demokratischen Rechtsstaat, sich identifizieren mit der deutschen Republik, mit den liberalen Freiheiten, der Toleranz - und doch nie die Erfahrung früherer Generationen, ihrer eigenen Eltern und Großeltern vergessen, dass in diesem Land auch einmal alles ganz anders gewesen ist.

Offman ist ein begabter Erzähler, und auch wenn es manche Literatur über den Neuanfang der jüdischen Gemeinden in der jungen Bundesrepublik gibt, sind seine Erinnerungen an die ersten Jahre, erzählt aus der Perspektive des Kindes und des Halbwüchsigen, von berührender Eindringlichkeit. Die Shoah dominiert das Empfinden, während große Teile der nichtjüdischen Umwelt davon bereits nichts mehr sehen und hören wollen, die Chance zum großen Vergessen begierig ergreifen, sobald die politischen Verhältnisse es erlauben.

Viele aus der Mehrheitsgesellschaft versuchen, aus ihm den anderen zu machen, den Fremden

Anders die Überlebenden wie Vater Mandelbaum, der eine 18-Jährige heiratet, weil sie ihn an seine von den Deutschen ermordete Frau erinnert: "Sie war noch so jung, (...) er wollte sich ein von den Nazis genommenes Leben zurückholen - und weit schlimmer: Er sah in der jungen Frau eine Verbindung zu seinem Vorleben. Diese Ehe konnte nicht gut gehen."

Und sie geht auch nicht gut. Die Geschichte des jungen Mandelbaum ist der ergreifendste Teil des Romans, in dem Offman etwa auch Mandelbaums Wegen und Irrwegen durch katholische Lehranstalten ("Das kann nicht sein, dass ihr kein Weihnachten feiert. Alle feiern Weihnachten!") und Sonderschulen beschreibt. Es ist ein Leben, in dem viele aus der Mehrheitsgesellschaft versuchen, aus ihm den anderen zu machen, den Fremden, einen, der zwar dabei ist, aber eigentlich nicht wirklich dazugehört. Und es ist das Leben eines jahrzehntelangen Kampfes dagegen, in dem sich viele, nicht nur jüdische Menschen wiedererkennen dürften.

Münchner Leser dürften Freude daran haben, bekannte Persönlichkeiten der Stadtpolitik hinter ihren fiktionalen Namen zu identifizieren - und manche dieser Persönlichkeiten werden sich ihrerseits winden vor Verlegenheit, wenn Offman detailfreudig beschreibt, wie sie versuchen, den Stadtrat Mandelbaum in seiner Eigenschaft als prominenten Juden für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Vor allem in der CSU wird das wohl mit gemischten Gefühlen aufgenommen werden. Offman fühlte sich am Ende verkannt und nicht mehr heimisch in der Partei und wechselte zur SPD. Heute ist er Integrationsbeauftragter Münchens.

Doch um den Roman mit Gewinn zu lesen, muss man die Münchner Verhältnisse nicht unbedingt kennen. Das Buch spricht für sich - und erzählt keine Geschichte des Scheiterns, sondern eigentlich eine Geschichte darüber, wie man Distanz und Abstand, und seien sie noch so groß, zu überwinden lernt. Das Symbol dafür sind das neue jüdische Zentrum und die Synagoge am Jakobsplatz, eingeweiht 2007, eine wunderbar lichte Architektur mit der Botschaft: Diese Gemeinde gehört ins Herz unserer Stadt.

Der Erzähler Offman spielt mit untergründiger Selbstironie und feinem Humor. Dann wieder konfrontiert er seine Leserinnen und Leser mit Alltagsbeschreibungen, die auf sehr knappem Raum alles sagen: "Jeden Samstag nach der Synagoge besuchte ich meinen Vater in seinem Laden. Er saß noch im hohen Alter von knapp 80 Jahren täglich in seinem kleinen Pelzgeschäft", oft sitzen Freunde bei ihm: "Die alten Männer hatten oft Tränen in den Augen, unterbrachen die Gespräche und blickten mich stumm und verlegen an. Ich war sicher, sie hatten noch vor wenigen Sekunden von der untergegangenen Welt ihrer Jugend und von ihren ermordeten Familien erzählt."

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