Maria Tumarkins Essays "Gewissheiten":Diskrete Wucht

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Sagt, was zu sagen ist, in einer Sprache, die unauffällig, elastisch und virtuos zugleich ist und vor keinem Seelenzustand zurückweicht: Maria Tumarkin. (Foto: Michael Haas/Hanser Verlag)

Maria Tumarkins außergewöhnliche Essays über das am schwersten zu Gestaltende: das Naheliegende und Gewöhnliche.

Von Thomas Steinfeld

Fünf Essays enthält der schmale Band der australischen Autorin Maria Tumarkin. Sie handeln von Katastrophen im Leben einzelner Menschen. Der erste dieser Essays gilt einer Schülerin, die im Alter von 16 Jahren Selbstmord beging, aus Gründen, die sich weder ihrer Familie noch ihren Freunden noch ihren Lehrern erschließen: Sie bringt sich um, aus vagen Motiven, und lässt Dutzende von Vertrauten zurück, die Jahre brauchen, um mit dem Ereignis auch nur halbwegs zurechtzukommen. Am Ende des Textes liest die Autorin in Aufzeichnungen der Toten, die aus einer Art Tagebuch zu stammen scheinen: "Es ist so leicht, Tinte oder eine Aufnahme zu löschen. Ich wusste nicht, dass es so einfach sein könnte, ein Leben zu löschen, du warst nicht einmal ein Fehler."

Wenn dieser Schluss erreicht ist, weiß der Leser längst, dass die Zeilen nicht erfunden sind. Er hat darüber hinaus gelernt, dass der Kummer eine gewöhnliche, vielleicht sogar banale Befindlichkeit ist und es gelegentlich nur einer kleinen Abweichung bedarf, eines Zufalls, um ein Leben aus der Bahn zu tragen. Und er hat sich daran erinnert, was Heranwachsen bedeutet, an ein Leben, in dem es für nichts und niemanden eine angemessene Form zu geben scheint, im Kleinen und erst recht im Großen.

Sie verweigert sich dem Melodram, dem parasitären Verhältnis zum Schicksal, dem Auskosten von Gefühlen

Spektakulär sind alle Ereignisse, denen Maria Tumarkin nachgeht, die 1989, im Alter von 15 Jahren, die Ukraine verließ, nach Australien auswanderte und heute an der Universität von Melbourne "kreatives Schreiben" unterrichtet: Auf die Recherchen zum Selbstmord eines Teenagers folgen ähnliche Untersuchungen zu einer Kindesentführung, zu Abstürzen in Drogen und Verbrechen, zu einem Flüchtlingsschicksal sowie zum Überleben nach dem Holocaust. Gemeinsam ist diesen Essays, dass die Autorin zwar den Schrecken in seiner ganzen Größe erfassen, an der existenziellen Wucht der geschilderten Ereignisse aber nicht partizipieren will.

Maria Tumarkin verweigert sich dabei dem Melodram, dem parasitären Verhältnis zum Schicksal, dem Auskosten von Gefühlen. Sie bleibt diskret, auch wenn es nichts zu geben scheint, das sie nicht ausspricht. Sie schreibt ihre Texte, als würde sie lediglich festhalten, was ihr - und manchmal auch ihrem jeweiligen Gegenüber - in den Sinn kommt, wenn sie über ein schreckliches Ereignis nachdenkt. Erst bei der zweiten oder dritten Lektüre bemerkt der Leser, wie viel Kunst sich in einem Ton verbirgt, aus dem das Gemachtsein verschwunden scheint. Was zur Folge hat, dass sich beim Lesen nie die Gewissheit eingestellt, man kenne jetzt, was ein anderer, fremder Mensch tatsächlich durchgemacht hat. Man ahnt es nur, mit einer in Gedanken aufgelösten Empathie.

"Axiomatics" lautet der originale Titel des Buches. Gemeint sind damit fünf "Gewissheiten", Gemeinplätze oder "Axiome", denen Allgemeingültigkeit für das Ganze und Große des Lebens zuzukommen scheint. Es sind Sätze wie: "Die Zeit heilt alle Wunden" oder "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen". Selbstverständlich sind diese Sätze nicht falsch. Richtig sind sie aber auch nicht, mit der Konsequenz, dass die Essays wie Untersuchungen daherkommen, in denen erwogen, verworfen und gebilligt wird, in denen Gewährsleute und Experten herbeigerufen werden und in denen nicht zuletzt eine offensichtlich gründliche, wenngleich wiederum nur diskret vorgetragene literarische Bildung hinzugezogen wird, um den Dingen auf den Grund zu gehen.

Maria Tumarkin: Gewissheiten. Aus dem Englischen von Claudia Voit. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2021. 256 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Manchmal ist es, als habe Maria Tumarkin bei Sören Kierkegaard das Zweifeln gelernt und sich bei David Foster Wallace erkundigt, was geschieht, wenn man rigoros ehrlich ist. Und in der Art, wie die einzelnen Elemente eines Essays zusammengefügt werden, sieht sich der Leser an die Collage-Techniken erinnert, die Swetlana Alexijewitsch in ihrer dokumentarischen Prosa benutzt. Nur, dass letztere in ihren Texten nicht von sich selbst spricht, während Maria Tumarkin aus ihrem Autorinnen-Ich keinen Hehl macht, mitsamt einer Herkunft aus dem Osten Europas, die dafür sorgt, dass ihr der Alltag in Australien (und wahrscheinlich: überall im Westen) auch nach 30 Jahren nicht selbstverständlich erscheint.

"Wer überlebt, weiß, dass die Entscheidung zwischen Erzählen und Schweigen die Wahl zwischen Pest und Cholera ist; beides ist gleichermaßen hoffnungslos"

Maria Tumarkins Essays besitzen ein Gegenüber: die Schreckensgeschichten aus dem wirklichen Leben, die man auf Englisch "real-life Stories" nennt und die längst ein eigenes literarisches Genre bilden, mit Übergängen in den Tagesjournalismus auf der einen und ins große Format, ins Buchwesen und in den Film, auf der anderen Seite. Es gibt dieses Genre, weil die Publizistik dem Gesetz des schärferen Reizes gehorcht und das Leben nie so gegenwärtig zu sein scheint, wie wenn das Blut spritzt und die größten Gemeinheiten begangen werden - darin eingeschlossen das eigene Leben, das um so lebenswerter erscheint, je gründlicher andere Leben zerbrechen.

Der Erbaulichkeit des Gruselns setzt Maria Tumarkin eine Zurückhaltung und Umsicht entgegen, in der die Einzigartigkeit, das Prekäre und auch das Gewöhnliche eines jeden Lebens um so schärfer hervortreten: in der Schwierigkeit zum Beispiel, in einer Schule zu trauern, in der Unmöglichkeit, ein improvisiertes Denkmal abzuräumen, in der Verlegenheit, überhaupt eine Sprache für den Schmerz zu finden. Und dann ist die Trauer plötzlich verschwunden, aber erst nach Jahren, wie eine Wunde, die allmählich von den Rändern zuwächst.

Eine Geschichte ist Vera Wasowski gewidmet, einer Polin, die das Ghetto von Lwòw (oder Lwiw oder Lemberg) überlebte, die in den Fünfzigern mit Roman Polánski und Andrzej Wajda befreundet war und in den Sechzigern, des wachsenden Antisemitismus wegen, nach Australien ging, um dort so mondän zu leben, wie es unter den "Kleinbürgern" möglich war. Eigentlich wollte Maria Tumarkin eine Biografie schreiben, unter relativ leichten Bedingungen: "Vera sagt, sie habe keine Lust, den Leuten zu erklären, wie sie ist, aber sie erzählt es ihnen doch; sie lässt andere an ihrer Geschichte teilhaben, sie macht sich die Mühe zu sprechen und vielleicht wünscht sie sich, es sei nicht notwendig, aber zugleich gibt es ihr Energie, oder vielleicht kommt es ihr quasi automatisch über die Lippen. Womöglich spricht sie aber auch, um eine andere Wahrheit zu schützen."

Die Biografie entsteht. Aber Vera Wasowski schreibt sie selbst, oder besser: Ein Ghostwriter verfasst sie, in ihrem Namen. Maria Tumarkin hingegen schreibt einen Essay darüber, wie und warum es ihr nicht gelingt, zur Autorin einer Biografie zu werden: "Wer überlebt, weiß, dass die Entscheidung zwischen Erzählen und Schweigen die Wahl zwischen Pest und Cholera ist; beides ist gleichermaßen hoffnungslos." In der Folge misst der Essay den Abstand zwischen den Möglichkeiten, aber auch zwischen den Unmöglichkeiten aus, das Leben eines solchen Menschen in einer Geschichte zu ergreifen.

Zum scheinbar improvisierenden Duktus dieser Prosa gehören lange Sätze, Wiederholungen, Einschiebungen und Exkurse. Es ist, als wären diese Texte schnell und mit großer Intensität des Schreibens entstanden. Ersteres stimmt mit Sicherheit nicht: Maria Tumarkin scheint manchmal Jahre für einen solchen Essay zu brauchen. Sie wechselt das Genre, innerhalb desselben Texts, sie geht von der Reportage zum Interview und von dort zur philosophischen Abhandlung über. Das falsche Pathos der kurzen, oft unvollständigen Sätze, die allzu häufig verwendet werden, um dem angeblich Unsagbaren eine kommunikative Form zu verleihen, ist ihr fremd.

Vermutlich verachtet sie die Coolness, in allen ihren Formen, als eine Haltung, die sich, weil sie eine Spielart der Besserwisserei ist, der Erfahrung verweigert, anstatt sie zu gestalten. Maria Tumarkin kann hingegen sagen, was zu sagen ist, in einer Sprache, die unauffällig, elastisch und virtuos zugleich ist und vor keinem Seelenzustand zurückweicht, während sie auf die Konventionen des Erzählens verzichtet. Sie nimmt den Leser nicht an der Hand, sie kommt ihm nicht entgegen, sie will es niemandem leicht machen. Vermutlich findet sie gerade deswegen eine Gestalt für das am schwierigsten zu Gestaltende: für das Einfache und Naheliegende.

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