Süddeutsche Zeitung

Maria Dessauer:Dicke Wolken am Quai Saint-Bernard

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Auf der Suche nach einer, die schon früher Gustave Flauberts "Lehrjahre" ins Deutsche brachte.

Von Lothar Müller

Erst in jüngerer Zeit tauchen Übersetzer - einige, nicht alle - in den Klappentexten auf, treten aus den Namen Personen mit Lebensdaten, Werken, Auszeichnungen heraus. Als 2001 im Insel Verlag die letzte Neuübersetzung der "Éducation sentimentale" erschien, stand auf der Rückseite des broschierten Bandes die passivische Standardformel: "Der Text wurde für diese Ausgabe neu übersetzt". Nicht auf der Titelseite, im Innern war zu lesen: "Lehrjahre des Gefühls. Geschichte eines jungen Mannes. Aus dem Französischen von Maria Dessauer." Auch ohne dass der Verlag einen Hinweis darauf gab, werden sich damals manche Leser daran erinnert haben, dass dieselbe Übersetzerin fünf Jahre zuvor bereits "Madame Bovary" übertragen hatte. Aber hinter dem Namen wurde keine Person sichtbar.

Wer ist oder war Maria Dessauer? Ein Blick in Bibliothekskataloge und Online-Antiquariate zeigt, dass sie schon seit Jahrzehnten als Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen tätig war, ehe sie zur Flaubert-Übersetzerin wurde. Sie begann in den mittleren und späten Fünfzigerjahren mit Romanen der britischen Autorin Antonia White und William Saroyans "Armenischen Fabeln", später, ab den Siebzigerjahren kamen mehrere Bücher von Hector Biancotti dazu, Romane von Catherine Colomb und Marguerite Duras, Colette und Jean Giono, gelegentlich kleine Kostbarkeiten wie Lewis Carrolls "Geschichte vom Schwein" oder "Die Schöne und das Tier" von Madame Leprince de Beaumont, auch Sachbücher wie "Der grausame Gott" von Alfred Alvarez oder Jan Myrdals "Kunst und Imperialismus am Beispiel Angkor". Insgesamt umfasst die Bibliografie der Übersetzerin Maria Dessauer gut vierzig Titel in diversen Verlagen. Ein Gemischtwarenladen, darunter wohl viele Auftragsarbeiten.

Kann man davon leben, über Jahrzehnte? Nach den "Lehrjahren des Gefühls" ist keine Übersetzung von Maria Dessauer mehr erschienen. Der Blick in die Kataloge zeigt, dass sie sich am Beginn ihrer Laufbahn als Schriftstellerin versucht hat. Im Jahr 1956 erschien ihr Romandebüt "Osman - Ein Allegretto cappricioso", das immerhin Paul Hühnerfeld, der damals einflussreiche Kritiker der Zeit, wohlwollend rezensierte. Drei Jahre später kam ein weiterer Roman hinzu, "Herkun", den die Frankfurter Allgemeinen Zeitung seit Herbst 1958 in Fortsetzungen vorab druckte. Die Buchausgabe erschien wie das Debüt im Hamburger Verlag Marion von Schröder. Die Karriere der Romanautorin brach ab. Nicht nur die Übersetzerin trat an ihre Stelle, sondern auch die Lektorin Maria Dessauer. In den Siebzigerjahren muss sie in den Suhrkamp Verlag eingetreten sein. In den Verlagschroniken taucht sie kaum auf, man weiß heute bei Suhrkamp wenig über sie. Aber das Suhrkamp-Archiv im Deutschen Literaturarchiv in Marbach weist Hunderte von Gutachten aus, die sie vor allem in den Siebzigerjahren und Achtzigerjahren, gelegentlich auch später noch, als Lektorin verfasst hat. Zelda Fitzgerald steht darin neben Hermann Lenz, George Steiner neben Ralf Dahrendorf, Franz Fühmann neben Ernst Herhaus und vielen, vielen anderen.

Anfang 1963 hatte der Suhrkamp Verlag den Insel Verlag Anton Kippenberg übernommen, es gab seitdem bis 1991 zwei Insel Verlage, einen in Frankfurt am Main, einen in Leipzig. Der Autorin und Übersetzerin war 1969 die Herausgeberin Maria Dessauer an die Seite getreten, als sie im Nymphenburger Verlag vierzehn Autoren und Autorinnen, darunter Christa Reinig, Heinrich Böll, Adolf Muschg und Sigrid Bauschinger in der Anthologie "Liebschaften des Zeus. Eine moderne Eroto-Mythologie" versammelte. Im Insel Verlag gab sie in zwei Bänden "Märchen der Romantik" und in einem Einzelband Clemens Brentanos "Italienische Märchen" heraus.

Aus den Editionen wird deutlich, dass die literarische Romantik die Sprachschule war, aus der die Übersetzerin hervorging. Im Nachwort zu Brentanos Märchen, das lange Passagen mit Kindheitserinnerungen enthält, wird zudem hinter dem Namen Maria Dessauer die Person sichtbar. Es beginnt mit dem Satz: "Ein Onkel hat das Haus erworben, in dem Clemens Brentano bei seinem jüngeren Bruder Christian 1842 gestorben ist." Das Haus, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, stand in Aschaffenburg, in der Kleinen Metzgergasse. Die Kindheitserinnerung Maria Dessauers, die voller Brentano-Anekdoten und Brentano-Deutungen steckt, spielt in den späten Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Wie alt mag sie damals gewesen sein?

Die Anfrage beim Melderegister ergibt: "Person Gefunden". Heißt das, dass sie noch lebt?

Der Name Dessauer ist in Aschaffenburg ein bekannter Name. Es gibt dort ein Gymnasium, das nach Friedrich Dessauer benannt ist, dem Physiker, Röntgenpionier und Reichstagsabgeordneten des Zentrums, der 1881 in Aschaffenburg geboren wurde und 1963 in Frankfurt am Main starb. Die Wissenschaftshistorikerin Anne I. Hardy hat 2013 für die Frankfurter Goethe-Universität eine Biografie über ihn verfasst, aus der man erfährt, dass seine Tochter Maria Dessauer am 3. August 1920 in Frankfurt am Main geboren wurde, wo der Vater, kurz zuvor an die Naturwissenschaftliche Fakultät berufen, sein Institut für Physikalische Grundlagen der Medizin aufzubauen begann. Sie war also achtzig Jahre alt, als sie für den Insel Verlag die "Éducation sentimentale" neu übersetzte.

Der Biografin ihres Vaters hat Maria Dessauer 2012/13 ihr Privatarchiv geöffnet und in zahlreichen Interviews Auskünfte über das Familienleben gegeben, aus denen auch ihr eigener Werdegang hervorgeht. Sehr anschaulich schildert sie die Attacken seitens der Nationalsozialisten, denen die Familie ab 1933 ausgesetzt war. Anne I. Hardy rekonstruiert die institutionellen Bedingungen, unter denen der Gang ins Exil an die Universität in Istanbul erfolgte, die Berufung Friedrich Dessauers an die Universität Fribourg in der Schweiz 1937, die Rückkehr nach Frankfurt am Main in den Nachkriegsjahren. Im frühen 19. Jahrhundert waren die Vorfahren Friedrich Dessauers vom Judentum zum Katholizismus konvertiert. Nur gut ein Jahr lang besuchte Maria Dessauer die Deutsche Schule in Istanbul, dann sorgten ihre Eltern dafür, dass sie ab Oktober 1935 ein katholisches Mädcheninternat in der Schweiz besuchen konnte.

Wenn derzeit Bücher zum Übersetzen erscheinen, steht darin meist die Poetik der Übersetzung im Vordergrund. Eine Sozialgeschichte der Übersetzertätigkeit gibt es erst in Umrissen. Was Flaubert betrifft, so steht ihr Material in der Datenbank "Flaubert sans frontières", Flaubert ohne Grenzen, der Universität Rouen zur Verfügung. Sie listet die Flaubert-Übersetzungen seit dem 19. Jahrhundert in aller Welt auf, ist ein internationales Adressbuch von Übersetzern, von denen nur wenige so bekannt sind wie der Autor René Schickele, der "Madame Bovary" übersetzt hat. Wir erleben derzeit die Ausgliederung des Übersetzens als selbständiger Beruf mit eigenständiger Infrastruktur und Interessenvertretung aus einem literarischen Feld, in dem lange die Mischexistenzen dominierten. Die Übersetzer werden zu Autoren, wie die Verfasser von Romanen, Essays, Kritiken seit Lessing im späten 18. Jahrhundert. Die kulturelle Aufwertung des Übersetzens geht mit der soziologischen Verselbständigung des Übersetzerberufs einher. Maria Dessauer gehört dem älteren Übersetzertypus an, der sehr häufig nur einen Namen hatte, aber keine Biografie, manchmal gar nicht im Titel auftauchte, sondern irgendwo auf der zweiten Umschlagseite oben.

Im Nachwort zu Elisabeth Edls "Madame Bovary"-Übersetzung taucht Maria Dessauer namentlich auf, als Verfasserin einer der 27 vorangegangenen Versionen, die insgesamt dem Urteil "niederschmetternd" verfallen, weil sich "keine einzige" der Herausforderung auch nur bewusst zu sein scheint, die es bedeutet, Flaubert zu übersetzen: "auch die besten unter ihnen verfehlen die spezifische Qualität ganz und gar". Es mag sein, dass Maria Dessauer, wie ihre Nachfolgerin moniert, in ihrer Übertragung des Satzes, in dem in der Küche der Blick des zukünftigen Liebhabers Léon auf Madame Bovary in ihren schwarzen Stiefelchen fällt, die ideale Lösung nicht gefunden hat. Das ändert aber nichts daran, dass ihre Flaubert-Übersetzungen zu den besten gehören, die es in deutscher Sprache gibt.

Ob Maria Dessauer noch lebt? Wenn ja, hätte sie Anfang August ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Die Wissenschaftshistorikerin Anne I. Hardy hat seit ein paar Jahren den Kontakt zu ihr verloren. In ihrer Wohnung in Frankfurt-Sachsenhausen, in die sie nach einem zeitweiligen Aufenthalt in einem Seniorenheim zurückgekehrt ist, hat sie schon vor ein paar Jahren keine Besuche mehr empfangen mögen. Auf eine elektronische Anfrage beim Melderegister der Stadt Frankfurt kam in der vergangenen Woche die Antwort: "Person Gefunden". Heißt das, dass die betreffende Person an der angegebenen Adresse noch lebt? Ja, sagt die Beamtin am Telefon, das besagt diese Auskunft.

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SZ vom 29.10.2020
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