Margarethe von Trotta:"In Wirklichkeit sind Frauen nicht gleichgestellt"

Margarethe von Trotta, 2014

Margarethe von Trottas Filme handeln oft von Schwestern, so auch das aktuelle Drama "Die abhandene Welt".

(Foto: Stephan Rumpf)

Starke Frauen sind ihr Lebensthema. Auch in ihrem neuen Film "Die abhandene Welt" präsentiert Margarethe von Trotta zwei Schwestern, die der Welt zeigen, wo es langgeht.

Von Paul Katzenberger

Sie war eine der ganz wenigen Frauen, die die Aufbruchsstimmung im deutschen Film der Siebzigerjahre prägte. Schon Margarethe von Trottas Regiedebüt von 1978, "Das zweite Erwachen der Christa Klages" über eine Bankräuberin, die Gutes tun will, zeigt jene Sensibilität für die Entwicklung weiblicher Charaktere, die später zu ihrem Markenzeichen wurde.

Der internationale Durchbruch gelang Margarethe von Trotta 1981 mit dem Film "Die bleierne Zeit" über die Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin, die im Zuge der 68er-Studentenbewegung unterschiedliche Wege gehen - die eine als Redakteurin, die andere als Terroristin. 1986 zeichnete sie in "Rosa Luxemburg" die Persönlichkeit der sozialistischen Vordenkerin nach. Es folgten mit "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen" (2009) und "Hannah Arendt" (2012) weitere Filme über historische Frauengestalten. In ihrem neuem Film "Die abhandene Welt" erzählt die Regisseurin eine fiktive Geschichte, angereichert mit ihrer eigenen Biographie.

SZ: Frau von Trotta, Ihr neuer Film "Die abhandene Welt" ist gerade ins Kino gekommen. Warum dieser Titel?

Margarethe von Trotta: Der Titel ist ein Zitat aus dem Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" von Friedrich Rückert und Gustav Mahler. Das ist ein Stück, das ich sehr mag, schon seit ewigen Zeiten. Es gehört zum Repertoire der Sängerin Janet Baker, die ich unendlich verehrt habe. Ich habe fünf Lieblingslieder von ihr, drei davon hatte ich schon in meinen ersten Filmen verwendet. Die beiden anderen wollte ich schon lange unbedingt noch unterbringen. Und hier passte es. Ich denke, es hat etwas mit dem Inhalt des Films zu tun.

Ohne Zweifel. Es fällt aber noch etwas anderes auf: Mahler war ein Komponist der Spätromantik, und in ihrem Film gibt es weitere Bezüge zur Romantik. Gleich in der ersten Szenen hören wir Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore"...

Das war das Lieblingslied meiner Mutter.

Ist es Zufall, dass beide Stücke aus der Romantik kommen? Genau wie das Doppelgängermotiv, das in ihren Filmen immer wieder und auch jetzt auftaucht, ist ein Kennzeichen der Romantik. Welchen Bezug haben Sie zu dieser Epoche?

Barbara Sukowa (links) und Katja Riemann in einer Szene des Films "Die abhandene Welt".

Schwestern auf Spurensuche: Caterina Fabiani (Barbara Sukowa, links) und Sophie Kromberger (Katja Riemann) erforschen in die "Die abhandene Welt" über Fotos ihre Familiengeschichte.

(Foto: Concorde Film)

Schon einen sehr großen. Einer meiner Lieblingsmaler ist Caspar David Friedrich. Novalis hat mich stark beeinflusst. Das kommt von meinen Eltern. Mein Vater war Maler. Aber man muss selbst einen Bezug dazu haben, das kann man nicht nur von den Eltern übernehmen. Dieser sehnsuchtsvollen, düsteren Seite der Romantik war ich in meiner Jugend sehr zugetan. Erst als ich nach Italien gezogen bin, bin ich etwas solarer geworden. Da kamen das Licht und die Ratio dazu.

Ihren Filmen blieb aber häufig eine gewisse Schwere erhalten.

Das hat sicher etwas mit meiner Biografie zu tun. Um solche Thematiken anzugehen, muss man in jungen Jahren darauf hingewiesen werden, das entdeckt man nicht nur von sich aus. Als ich studiert habe, war E.T.A. Hoffmann einer meiner ganz großen Lieblinge. In seinem Roman "Die Elixiere des Teufels" entdeckte ich das Doppelgängermotiv, auf das ich dann immer wieder gestoßen bin, und das mich immer wieder angezogen hat.

Warum sind Sie von diesem Motiv so fasziniert?

Gerade in meinen ersten Filmen habe ich mich selbst sehr stark in Extremen wahrgenommen, wie mit einem Expander ausgedehnt, sodass ich immer zwei Personen brauchte, um diese beiden Extreme zu beschreiben. Damals dachte ich, es gehe mir im Grunde um eine Person, die ich in zwei aufgespalten habe.

In "Die abhandene Welt" ist das nicht mehr so. Da taucht die zweite Doppelgängerin nur indirekt auf.

Die Zeit heute ist für mich auch nicht mit damals vergleichbar. Nachdem ich erfuhr, dass ich eine Schwester habe, wurde mir klar, dass ich damals wohl einen Schatten mit mir herumgetragen habe. Unbewusst wissend, dass ich eine Schwester habe, die ich in mir drin hatte, die ich aber nicht wahrnehmen konnte.

Sie erfuhren in den frühen Achtzigerjahren davon, dass Sie eine Schwester haben. Aber unterbewusst ahnten Sie es schon vorher?

Selbstverständlich. Meine Mutter hat mir das unterbewusst vermittelt. Von Sigmund Freud gibt es ein Essay darüber, wie gerade Kleinkinder mit der Mutter telepathisch verbunden sind. Als ich geboren wurde, hat meine Mutter sicher stark an das andere Kind gedacht. Und das habe ich gespürt und mein Leben lang mit mir getragen.

"Wie eine Wiederauferstehung meiner Mutter"

Sie haben vorher schon zwei Filme über Schwestern geschrieben. "Die abhandene Welt" ist nun der erste Film, bei dem Sie konkret wussten, dass Sie eine Schwester haben. Was war dadurch anders?

Natürlich einiges, zum Beispiel die Geschichte als solche. Da gibt es eine Schwester, über die nichts gewusst wird, die aber gesucht wird. Eine Spurensuche in der Vergangenheit in dieser Art war neu für mich.

Im Film kommen die Schwestern nach einigen Schwierigkeiten zusammen, wie war das für Sie persönlich? Haben Sie Kontakt zu Ihrer Schwester?

Nachdem ich erfahren hatte, dass es sie gibt, habe ich Sie aufgesucht. Sie hat meiner Mutter viel ähnlicher gesehen als ich. Für mich war das im ersten Moment wie eine Wiederauferstehung meiner Mutter. Das habe ich in dem Film auch untergebracht.

Wie war es, im Alter von knapp vierzig Jahren plötzlich eine Schwester zu haben?

Geschwister zu sein, heißt ja, eine gemeinsame Kindheit zu haben, an die man sich erinnern kann, und das fällt bei uns weg. Trotzdem gibt es eine gewisse Nähe, auch wenn sie natürlich einen ganz anderen Lebensentwurf hat als ich. Wir hören von einander, wir schreiben uns, wir telefonieren.

Wie war es für ihre Schwester, plötzlich eine prominente Persönlichkeit zur Schwester zu haben? Konnte sie damit umgehen?

Das hat sie nicht gestört. Dafür hat sie vier Kinder auf die Welt gebracht, und die haben schon wieder Kinder. Sie hat ein ganzes Dorf kreiert, während ich nur mich und meine Filme darstelle. Mein Sohn ist Einzelkind, wie ich es war, und hat keine Kinder. Da kommt nichts mehr.

Sie suchen bei Ihren Protagonisten immer wieder nach Brüchen in der persönlichen Geschichte - oft anhand von historischen Vorbildern. Jetzt erzählen Sie eine teilweise fiktive Geschichte über biografische Verwerfungen. War das leichter als mit einem historischen Vorbild zu arbeiten?

"Rosa Luxemburg" und "Hannah Arendt" fielen mir am schwersten. Das hat mich unendlich gequält, bis ich das Gefühl hatte, jetzt haben wir ein Drehbuch, das der Person kein Unrecht tut. Wenn man eine bedeutende Persönlichkeit porträtiert, hat man doch immer das Gefühl, dass man nicht auf deren Höhe ist, weder intellektuell noch sprachlich. Bei einer Fiktion, die ich mir ausgedacht habe, ist der Druck deutlich geringer. Ob ich mir gerecht werde oder nicht, da habe ich nur mit mir selber zu hadern.

Die Recherchen, die man bei historischen Persönlichkeiten zu leisten hat, machen viel Arbeit. Aber gibt es nicht den Vorteil, beim Zuschauer einiges voraussetzen zu können, was die Zeichnung der Figur angeht?

Oder eben nicht, wie bei Rosa Luxemburg, die hatte bei uns in Westdeutschland ja einen fürchterlichen Ruf. Es gab damals diese Briefmarke mit ihrem Porträt, da haben manche Empfänger eines Briefes die Annahme verweigert, nur weil ihre Briefmarke auf dem Brief klebte. Mit der "roten Rosa" wollten die Leute nichts zu tun haben. Das weckte in mir das Bestreben, ihr im Film Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und zu zeigen, dass das absolut nicht so eine Klischeeperson war, wie sich das viele eingebildet haben.

Die "Rosa Luxemburg" ihres Films ist eine vielschichtige Persönlichkeit. Wie sind Sie vorgegangen, sie zu ergründen?

Um an die Person heranzukommen, habe ich sehr viele Briefe gelesen. Gott sei Dank haben die Menschen in der Zeit noch viele Briefe geschrieben. Es gab ganze Korrespondenzen. Von Rosa Luxemburg sind 2500 Briefe erhalten geblieben. Die habe ich alle gelesen. Bei Hannah Arendt gab es viele Briefbände, und bei Hildegard von Bingen gab es auch Briefe. Und durch diese kommt man der Person doch sehr nahe. Denn je nachdem, wer das Gegenüber ist, ist der Brief etwas anders geschrieben. Dadurch bekommt man das Kaleidoskop einer Persönlichkeit.

Entsteht in Filmen über eine historische Persönlichkeit, bei der man beim Zuschauer Wissen voraussetzen kann, automatisch mehr Tiefe als bei einer fiktiven Figur, die Sie selber konstruieren müssen?

Daniel Olbrychski und Barbara Sukowa in einer Szene des Films "Rosa Luxemburg" von Margarethe von Trotta aus dem Jahr 1986.

Rosa Luxemburg (Barbara Sukowa, rechts) mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches (Daniel Olbrychski) in einer Szene des Filmes "Rosa Luxemburg" von Margarethe von Trotta. Sie gründete mit ihm und und weiteren Mitstreitern den Spartakusbund.

(Foto: imago/teutopress)

Das stimmt, aber eine fiktive Figur bietet mir dafür mehr Freiheit. Und dann haben Sie bei bekannten Figuren noch das Problem, dass jeder denkt, er kenne sie, und rechthaberisch wird, und Ihnen sagt, ich sehe die aber anders.

"In Venedig war ich die erste Frau nach Leni Riefenstahl"

Rosa Luxemburg und Hannah Arendt waren in ihrer Zeit Pionierinnen und Sie selbst haben sich immer für die Gleichberechtigung der Frau eingesetzt.

Das haben übrigens weder Rosa Luxemburg noch Hannah Arendt je getan. Die waren einfach stark. Die brauchten sich nicht mehr über Ungerechtigkeiten zu erregen. Aber sie waren natürlich Vorbilder für die Feministinnen.

Und wie sieht es mit deren Anliegen in unserer heutigen Gesellschaft aus ihrer Sicht aus?

Vom Gesetz her sind Frauen heute gleichgestellt, aber in Wirklichkeit eben nicht und auch nicht in den Köpfen vieler Männer.

Für das Filmgeschäft trifft das besonders zu. Als Regisseurin sind Sie ja fast schon eine Exotin.

Natürlich. Jetzt gibt es wieder die Initiative "Pro Quote Regie", bei der sich junge Regisseurinnen auflehnen und 50 Prozent der Regieaufträge für Frauen fordern. Das haben wir schon einmal Ende der Siebzigerjahre gemacht, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckl und ich. Wir haben nicht so furchtbar viel erreicht, ein bisschen schon.

Bei "Pro Quote" machen Sie jetzt aber nicht mit?

Unterschrieben habe ich schon, aber ich bin kein Mitglied. Jetzt sollen mal die Jungen ran. Ich war überzeugt, dass das schon viel weiter gediehen war mit der Gleichberechtigung. Doch dann haben mir die Kolleginnen von "Pro Quote" Dokumente über die Teilhabe von Frauen am Fernsehen und ihre Bezahlung im Film vorgelegt, weil sie wollten, das ich mitmache. Da war ich sehr erstaunt. Das ist ja immer noch ein Riesenunterschied zu Männern.

Vor drei Jahren haben Tausende Filmemacher bei den Filmfestspielen von Cannes gegen die Einladungspolitik des Festivals protestiert. Da waren 22 Filme im Wettbewerb - alle von Männern.

Ja, keine einzige Frau war damals im Wettbewerb vertreten. Aber das haben die gar nicht gemerkt. Das ist ja das verrückte, dass Männer in den Gremien das gar nicht registrieren. Das ist keine Bösartigkeit, dass sie etwa sagen: 'Wir wollen die Frauen nicht.' Dann haben sie so viel Schelte von den Frauen bekommen, dass sie im vergangenen Jahr gleich eine Frau zur Präsidentin (Jane Campion, Anm. d. Redaktion) gemacht haben und seither immerhin drei Frauen mit ihren Filmen im Wettbewerb vertreten waren.

Bei der Berlinale war das in diesem Jahr auch zu spüren. Die Festivalmacher haben sich damit gebrüstet, dass der Eröffnungsfilm von einer Frau war, von Isabel Coixet. Schaut man aber nach, wann eine Frau das letzte Mal die Berlinale eröffnet hat, muss man 20 Jahre zurück gehen - und landet bei Ihnen: 1995 eröffnete die Berlinale mit Ihrem Film "Das Versprechen".

Ist das nicht verrückt? Das ist wie als ich in Venedig den "Goldenen Löwen" bekam und ganz froh und stolz von der Bühne herunterging. Da stand unten die Zwillingsschwester von Isabella Rossellini, die damals für das italienische Fernsehen arbeitete. Und ihre erste Frage lautete: 'Wie fühlen Sie sich, als erste Frau nach Leni Riefenstahl in Venedig ausgezeichnet zu werden?' Das war für mich ein Hammer. Stellen Sie sich das mal vor: Das war 1981 und ich war die erste Frau nach Leni Riefenstahl (die 1938 in Venedig die "Coppa Mussolini" erhielt, Anm, d. Red.).

Wären Sie für eine Frauen-Quote in den Wettbewerben der Großfestivals?

Für eine Quote bei den Wettbewerben bin ich nicht. Aber bei der Vergabe von Mitteln. Und außerdem könnten die Programmierer bei den Festivals ihr Augenmerk verändern und nicht nur fragen: 'Wo sind die guten Filme?', sondern nachsehen, ob es nicht wirklich gute Filme speziell von Frauen gibt. Dann wäre schon viel gewonnen.

Die abhandene Welt, Deutschland 2015. Regie: Margarethe von Trotta. Buch: Margarethe von Trotta. Kamera: Axel Block. Mit Barbara Sukowa, Katja Riemann, Matthias Habich. Concorde Film, 101 Min.

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