Süddeutsche Zeitung

Margaret Atwoods Gedichte: "Innigst":So viele Schwestern verloren

Nahbare Gedichte, beseelte Tiere, politische Signale: Jan Wagner übersetzt die neuesten Gedichte von Margaret Atwood. Ein kongeniales Paar.

Von Birthe Mühlhoff

Die 1939 geborene Margaret Atwood ist einer der Sterne am Literaturhimmel, die in den vergangenen Jahren auch auf Fernsehbildschirmen hell aufleuchteten. Die 2017 zuerst ausgestrahlte Serie "The Handmaid's Tale" mache sie dreißig Jahre nach dem Erscheinen ihres gleichnamigen Science-Fiction-Romans auch bei jungen Leuten zur Ikone. Zum Symbol wurden damit auch die Filmkostüme: rote Gewänder mit überdimensionierten weißen Hauben, in die ein evangelikales Regime junge Frauen zwingt, die, nachdem die Umwelt völlig zerstört ist, noch Kinder gebären können. Das soll dann auch ihr einziger Daseinszweck sein. Atwood selbst taucht tatsächlich für einen Cameo-Auftritt in der zweiten Staffel auf, um als Aufpasserin der jungen geknechteten Offred eine Ohrfeige zu verpassen.

Gedichte werden bekanntlich selten verfilmt, sie sind eher wie Monde und Asteroiden, die nur indirekt ins Licht rücken und bei Atwood immer schon im Orbit ihrer vielen Romane auftauchen. Auf Deutsch erschien zuletzt 2020 der Band "Die Füchsin", für den einige der wichtigsten Gegenwartsdichterinnen und Dichter die gesammelten, zwischen 1965 und 1995 entstandenen Gedichte übersetzten. Nun kommen Atwoods neueste Gedichte - geschrieben zwischen 2008 und 2019 - als zweisprachige Ausgabe heraus. Auch hier stehen ihre großen Themen im Vordergrund: Feminismus, Umweltschutz und die düsteren Aussichten für beides.

Blaue Federn auf dem Cover verraten: Vögel, das schreibt sie in ihrem kurzen Vorwort auch, kommen im Band besonders häufig vor. Sollte Atwood trotz ihres hohen Alters noch einen Gedichtband veröffentlichen, so wünscht sie sich noch mehr Vögel darin - und dass es auch auf der Welt mehr Vögel geben möge: "Laßt uns alle miteinander hoffen."

Die Perspektive einer Kampfdrohne ergibt, dass sie an einer Sinnkrise vorbeischrammt

Aufrufe zur Hoffnung haben es so an sich, dass sie weniger hoffnungsvoll klingen als vielmehr hoffnungslos. Während der elf Jahre, in denen sie diese Prosagedichte schrieb, heißt es weiter, "verdunkelte sich die Welt". Umso überraschender (und erfreulicher) ist es dann, dass die ersten Gedichte erstaunlich licht sind, gar nicht schwer und bedrückend, sondern klar, einfach und geradeaus.

Mit Jan Wagner hat der Berlin-Verlag den richtigen Übersetzer für Atwoods Gedichte gefunden. Das sind nicht nur zwei große Namen auf einmal: Der Büchner-Preisträger von 2017 hat damit eigentlich alles erreicht, was es im deutschen Buchstabensport an Medaillen so zu erreichen gibt. Wagners eigene Gedichte sind, um beim Vogelthema zu bleiben, denen von Atwood artverwandt: Beide lehnen sich in formaler Hinsicht nicht aus dem Fenster - sie beschreiben lieber das Fenster selbst. Mit einem Zug ins Objektophile wimmelt es in den Gedichten von beseelten Gegenständen wie von Tieren. Atwood schreibt über eine demente Katze, ihre alten Reisepässe, ein leeres Hotelzimmer, Plastikfundstücke am Strand, Zikaden im Sommer und Pilze im Herbst. Es scheint kaum etwas zu geben, in das sich Atwood und Wagner nicht hineinfühlen können. In einem Gedicht nimmt sie sogar die Perspektive einer Kampfdrohne ein, die angesichts ihres Massakers haarscharf an einer Sinnkrise vorbeischrammt.

Es sind nahbare Gedichte. Es sind Beobachtungen von Alltäglichem. Mit den davon ausgelösten Empfindungen dürften viele Menschen etwas anfangen können. Wer hat nicht schon einmal über die Sammlung alter Passfotos nachgedacht, "die beweisen soll, daß ich war, die ich war". Wie leblos man darauf ausschaut: Atwood kommt sich vor wie "eine Meerjungfrau, die verdammt ist, alle fünf Jahre / an Land zu gehen" und jedes Mal an Lebendigkeit einbüßt. Immer wieder spricht sie vom eigenen Altern - dass auch Katzen nicht vor Demenz gefeit sind, spiegelt die eigene Angst und endet in der harten Aufforderung an ihre Liebsten: "Wenn ich so werde, Fell bekomme, heule (...) schließt ab. Verriegelt das Fenster." Manche Zeilen sind von einer berührenden Schönheit, die man so schnell nicht wieder vergisst. Ein Gedicht besteht aus der Betrachtung der eigenen alten Mutter im Schlaf "zusammengerollt wie ein Farn im Frühling, / obwohl sie fast ein Jahrhundert alt ist".

Das ist keine experimentelle Lyrik, kein Avantgardismus, keine über tausend Ecken gespielte Ironie. Hier wird nicht behauptet, als Dichter müsse man ein besonders bemerkenswerter oder merkwürdiger Charakter sein - das ist angenehm angesichts der Tatsache, dass jeder zweite Mensch auf Twitter von sich selbst behauptet, ein Nerd, ein Geek, ein komischer Vogel zu sein. Es gibt kein Ausbuchstabieren der politischen Stoßrichtung. Es bleibt ein Stoßseufzer über die Welt und das Schicksal der Frau.

Manchmal verlieren sich diese Stoßseufzer ins Ungefähre. Je klarer die politische Haltung, desto weniger scharf die Beobachtungsgabe. Folgte man gerade noch der durch die Wohnung irrenden Katze, die sich selbst nicht mehr erkennt, wirken die Gedichte, in denen die Sorge um Natur und Umwelt zum Ausdruck kommt, wie wahllos aneinandergereihte Sätze: "Vögel brauchen die verlorenen Namen nicht. / Wir brauchten sie, aber das war damals. / Wen kümmert es jetzt?"

Das Gleiche gilt für die eindeutig atwoodfeministischen Gedichte, bei denen die Fans von "The Handmaid's Tale" auf ihre Kosten kommen. Wenn Schwesternschaft der einzige Bezugspunkt und Gewalt die ständige Bedrohung ist, bleibt beides abstrakt und namenlos. Man muss es wohl als Lied oder Mantra begreifen, sonst bleibt nicht viel mehr als vage Emphase: "So viele Schwestern verloren / So viele verlorene Schwestern / In all den Jahren, Jahrtausenden / So viele vor der Zeit / Verstoßen in die Nacht / Von Männern, die glaubten, so sei es gedacht". Dass der weibliche Blick auch ein humorvoller sein kann, weiß Margaret Atwood aber zum Glück auch: "Früher einmal waren alle Werwölfe männlich. / Sie barsten durch ihre blaue Jeanskleidung und ihre eigene, aufgeplatzte Haut, / entblößten sich in Parks, / heulten den Mond an. / Was Burschenschaftler so machen."

Wer hoffnungsfroh ist, den nennt man auch zukunftszugewandt. Wer sich der Zukunft zuwendet, schöpft allerdings nicht automatisch Hoffnung. Eher ist das Gegenteil der Fall. Vielleicht guckt man in die falsche Richtung, wenn man Hoffnung in der Zukunft sucht. Vielleicht hat sie eher etwas mit festem Halt zu tun, mit etwas bereits Vorhandenem oder bereits Vergangenem. Vielleicht sind Gedichte als Hoffnungsträger besser geeignet als Science-Fiction oder "Speculative Fiction", wie Margaret Atwood ihre Romane lieber nennt. Die meisten Gedichte kommen "zu spät", schreibt sie im ersten Gedicht dieses Bandes, "wie der Brief eines Seemanns, / der eintrifft, nachdem er ertrunken ist". Ein Gedicht hält etwas Erlebtes fest - "was es auch war, es ist längst passiert".

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