Süddeutsche Zeitung

Maren Wurster: "Eine beiläufige Entscheidung":Darf sie ihr Kind verlassen?

Autorinnen entwickeln zusehends neue Verfahren, um von den Härten der Sorgearbeit zu erzählen. In Maren Wursters neuem Roman scheitert eine Mutter an der Fürsorge für ihr Kind.

Von Hanna Engelmeier

Kaum eine Begründung für das problematische Sozialverhalten einer fiktionalen Figur löst stärkere Gähnreflexe aus als der Satz "Mama ist schuld": Sie war zu wenig da, war überhaupt nicht da, hat zu selten Plätzchen mit X gebacken, hat getrunken, hat Y geschlagen, wurde aber selbst geschlagen, war zu kühl, war zu dominant: Hauptsache, sie hat etwas falsch gemacht.

Die Ödnis dieser Monokausalität besteht nicht darin, dass all das nicht verbreitete Probleme sind. Aber es ist enorm schwierig, dabei nicht das Register des Abgedroschenen zu ziehen. Die erzählerische Rückführung eines schwierigen oder gar verpfuschten Lebens auf die eine Figur, von der man offenbar alles erwarten, alles verlangen darf, macht sich verdächtig, bei der Gestaltung des vielleicht nuancenreichsten Beziehungstyps überhaupt mindestens etwas faul zu sein.

Maren Wurster geht diese Herausforderung in "Eine beiläufige Entscheidung" an, indem sie die zwei Seiten der Mutter-Kind-Beziehung einerseits radikal ernst nimmt und andererseits formal bricht: Die Geschichte des verloren durch seine Teenagerjahre taumelnden Konrad und der von ihrer Mutterschaft mindestens stark herausgeforderten Lena wird zwar in einem Buch erzählt, aber der darin enthaltene Roman ist in zwei Teilen abgedruckt, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können.

Die Leserinnen und Leser müssen sich entscheiden: Beginnen sie mit dem Teil über Konrads Zeit in der Jugendeinrichtung Quellspring, in die er verbracht wird, weil sein Vater Robert keine Energie für die Erziehung des schwierigen Jungen aufwenden will - oder drehen sie das Buch um und beginnen sie auf der gegenüberliegenden Seite mit der Erzählung von Lena, die ihren Sohn Konrad als Säugling beim Vater zurücklässt? Die Buchbindung vollführt dabei auf Materialebene, wovon der Roman handelt: von einer Beziehung, in der Trennung, aber keine Auflösung möglich ist.

Im Konrad-Teil entkoppelt Wurster zunächst die Fürsorge von der Mutterfigur: Eine Tagesmutter namens Una übernimmt eine erfüllende Rolle. Später kommen Lehrer, Therapeutinnen oder die Eltern von Mitschülern ins Spiel. Wurster verfällt dabei aber keinem Es-braucht-ein-Dorf-Erziehungsideal. Konrad ist verlassen und wütend. Schließlich gelingt es ihm, diese Wut in Holzskulpturen umzuleiten, die er erschafft. Das mag ein engagiertes Plädoyer für Kunsttherapie sein, leise Zweifel werden jedoch durch Konrads Erzählstimme wach. Er spricht in der ersten Person und mit dem gleichen für alle Sinneseindrücke sensiblen Vokabular wie die Erzählerin in der dritten Person, die im Lena-Teil des Romans spricht.

Natürlich mag es äußerst sprachmächtige Jungen im Teenageralter geben, aber tatsächlich scheint im Abgleich mit dem anderen Teil des Romans die Modellierung der Stimme eines Jugendlichen manchmal wie Bauchrednerei, in der sich die Autorin hektisch daran erinnert, nun noch einen Kommentar wie "Sie kotzte mich schon wieder an" einbinden zu müssen.

Die Belastungen der Hausarbeit waren lange kein rechtes Thema für die Literatur

Das Verhältnis von Wut und Fürsorge spiegelt sich im Lena-Teil. Vergeblich versucht sie nach den Strapazen von Geburt und Wochenbett von Konrads Vater Robert selbst Fürsorge zu erfahren oder ihn zumindest dazu zu bringen, diese dem gemeinsamen Sohn angedeihen zu lassen. Dafür fühlt er sich nicht zuständig, da er den Kinderwunsch seiner Partnerin zwar erfüllen, aber nicht teilen wollte. Entkräftet verschwindet Lena schließlich aus der gemeinsamen Wohnung.

"Eine beiläufige Entscheidung" gehört zu einer Literatur der Sorge, die in den vergangenen Jahren hervorgetreten ist und deren Vertreterinnen (nein, keine Vertreter) sich unter anderem in dem Kollektiv writing with care/rage zusammengeschlossen haben. Bei aller scheinbar leichten Zugänglichkeit des Themas Elternschaft diskutieren dessen Mitglieder vor allem Fragen nach den Härten unbezahlter Arbeit, die größtenteils Frauen in Familien und Pflege leisten - und eben auch die enorme Wut, die sich bei denen einstellt, die diese Leistung erbringen.

Während bislang kaum ein Bereich menschlichen Handelns oder Erlebens nicht als geeignetes Thema von ernst zu nehmender Literatur galt, war das bei der Frage nach den Belastungen durch Hausarbeit, emotionalen Beistand für die Familie, Gebären und Stillen, der ständigen Verfügbarkeit des eigenen Körpers für ein Baby, anders. Hier setzen das Kollektiv und auch Wursters Roman an.

Explizite Körperlichkeit in der Literatur ist in der Regel penetrant

So beginnt der Lena-Teil des Buches mit den Schmerzen einer Brustentzündung, und das ist auch als provokative Geste angelegt. Will man Sätze wie "Das waren keine vollen Milchbrüste mehr, sie fühlten sich an wie mit Steinen gefüllte Lederbeutel. Würden sie nicht so schmerzen, könnte sie glauben, sie gehörten nicht zu ihr" wirklich lesen? Wenn nein: warum nicht?

Das Sperma Henry Millers - literarisch gemeint - ist doch für manche Leserkreise auch interessant genug gewesen. (Falls man sich für männlichen Sex interessiert, kann man in "Eine beiläufige Entscheidung" auch einfach zu den Stellen springen, in denen Konrad Sex hat. Mit einem Mitschüler.)

Solcherlei Körperlichkeit in der Literatur ist in der Regel penetrant, und ob man das gut oder schlecht findet, sagt vielleicht weniger über Textqualität aus, als darüber, wie das persönliche Verhältnis zu diesen Vorgängen ist. Das mag ebenso durch die eigene Geschlechtsidentität bestimmt sein wie durch dominierende ästhetische Traditionen: Das vermutlich geringe Ausmaß, zu dem darin Brustentzündungen eine Rolle spielen, verhält sich umgekehrt proportional zu der Häufigkeit dieser Infektion. Davon zu lesen, ist auch Gewöhnungssache.

So sehr das Buch für Verständnis für die Mutter wirbt, so unfair ist es an anderer Stelle

Lena versteckt sich nach ihrem Verschwinden in einem Schrank in einem Haus, von dem wir nicht erfahren, wie sie dort hinkam, woher sie davon weiß, wo es steht. Dort wird sie von einem Fremden mit wenigen Lebensmitteln versorgt. Mal dämmert sie vor sich hin, mal ernährt sie sich von ihrer eigenen Milch, sie durchläuft Erinnerungen an die Beziehung zu Robert.

Sie zeigen Lena als erfolgreiche Modedesignerin, die ihn bei einem Selbsterfahrungsseminar kennenlernt. Robert sieht gut aus und macht beruflich etwas, was ihn dazu nötigt, Sätze wie "Ich muss noch ein Memo schreiben" zu sagen. Wilde Verliebtheit, Drogen, Partys und dann die Geburt des Kindes folgen. Roberts und Konrads Interaktion findet später vorrangig am Telefon statt. Versorgt wird Konrad eigentlich von seiner Tagesmutter Una.

Auf die Zärtlichkeit in dieser Beziehung legt Wurster ebenso viel Gewicht wie auf deren Ausbleiben in so vielen anderen. Es ist zudem eine Stärke des Romans, die Verwobenheit des Lebens von Mutter und Kind, Lena und Konrad, über die Trennung hinweg zu beschreiben. So sehr dieses Buch aber für Verständnis und Gerechtigkeit für diejenige Mutter wirbt, die eben keine Mutter sein will, so viel es aufbietet, um kenntlich zu machen, dass die Zusammenführung aller Bedürfnisse in der Mutterfigur eine Zumutung für Frauen ist, so unfair wird es an anderer Stelle.

Dass Robert ein emotional unterbelichteter Versager und stumpfer Businesstyp ist, wird auf eine Art geschildert, die weniger ungerecht gegenüber dieser fiktionalen Figur ist als gegenüber dem Publikum, das sich auf die Zweiteilung des Buches und seine Figuren einlässt. An diesem zentralen Punkt aber wird es dann mit einem Fuzzi abgespeist, dessen Verhalten als die Wurzel von Lenas Unglück und Konrads Lebensgeschichte gelten muss. Die Formel "Mama ist schuld" durch "aber Papa eigentlich noch viel mehr" zu ergänzen, ist literarisch zwar eine erprobte, aber deshalb nicht ausreichende Lösung.

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