Süddeutsche Zeitung

Kulturgeschichte:Der Ozean flutet auf unseren Tischen

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Mareike Vennen erhellt, wie das Aquarium Hobbyisten und Wissenschaftler begeisterte.

Von Thomas Steinfeld

Die Wissenschaft von der Natur ist auf Technik angewiesen, und so war es von vornherein: auf Feuerstellen und Kessel, auf Seziermesser und Pinzetten, auf Fern- und Vergrößerungsgläser und Messgeräte für Zeit und Raum. Die Bindung an Apparate intensivierte sich im Lauf der Geschichte, um dann etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts unauflöslich zu werden.

Man habe es "mit einem kolossalen Training der analytischen Sehkraft zu tun", schrieb der russische Dichter Ossip Mandelstam im Jahr 1932 in einem Aufsatz, dem er den Titel "Rund um die Naturforscher" gab, wobei das Training mit "dem Wunsch nach gesteigerter Welterfahrung und persönlicher Initiative" verknüpft sei. Zu den Mitteln der "analytischen Sehkraft" ist auch die zur Beobachtung eingerichtete oder gar erst geschaffene Umgebung zu rechnen: der Zoo zum Beispiel, wie er um das Jahr 1750 aus der höfischen Menagerie hervorging und kurz nach der Revolution im Pariser "Jardin des Plantes" zum ersten Mal die Gestalt annahm, die er im Grunde heute noch besitzt.

Während jedoch in London, Hamburg oder Antwerpen spanische Hühner, Lamas und Löwen bald zu Attraktionen wurden, blieb ein gewaltiger Teil des Tierreiches dem "Wunsch nach gesteigerter Welterfahrung" erst einmal verschlossen: das Leben unter Wasser. Weder war es dem Beobachter möglich, sich über eine gebührend lange Zeit dort aufzuhalten, noch ließ sich das Leben unter Wasser auf dem Land reproduzieren. Das änderte sich erst allmählich um das Jahr 1850, mit der Entwicklung des Aquariums, das seinerseits eine Reihe von technischen Errungenschaften voraussetzte, allen voran die Entwicklung von bruchfestem, transparentem Glas, aber auch von Behältern zum Transport von Fischen, womöglich über große Entfernungen. Einmal in die Welt gesetzt und technisch stabil, wurde das Aquarium jedoch schnell zum Gegenstand einer kleinen Volksbewegung, die vor allem in Großbritannien und in Deutschland um sich griff.

In den Kulturwissenschaften, einem akademischen Fach ohne Kanon, aber mit einem besonderen Interesse an nur scheinbar selbstverständlichen Praktiken des Alltags und technischen Geheimnissen, entstand in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Studien zur Phänomenologie des Alltags, angefangen bei der Schreibmaschine über den Aufzug bis zum Fernsehschrank. Zu ihnen gehört auch das Buch "Aquarium" der Berliner Historikerin Mareike Vennen, das sich, über das Maß eines schon üblich gewordenen hohen Standards hinaus, durch eine Konzentration auf das Material auszeichnet: Wie sich Seeanemonen transportieren ließen, welchen Anforderungen das Glas genügen musste, wann man auf den Gedanken kam, Schnecken zur Vertilgung von Algen auf den Scheiben einzusetzen, welchen Aufwand die Post im Umgang mit aufgeweichten, tropfenden Paketen trieb, und wie sich schließlich die Wasserversorgung des Beckens mit der Haustechnik verband. Das Buch ist reich an solchen Darlegungen. Je weiter sie indessen getrieben werden, desto deutlicher wird auch, dass die Begeisterung für das Aquarium mehr war als eine Marotte von Hobbyisten oder ein spezielles Interesse von Biologen. Sie war Ausdruck und Medium gesellschaftlicher Veränderungen substanzieller Art. Das gilt für die Volksbewegung der Aquarienbetreiber, in der sich die Leidenschaft des 19. Jahrhunderts für die Wissenschaft (im Singular) manifestiert. Es gilt für die Idee des natürlichen Gleichgewichts, das in einem Aquarium gewahrt sein muss, weil anderenfalls die Fische sterben. Es betrifft das Verhältnis der Hobby-Aquaristen zu den professionellen Tierforschern, in dem jene in der Zahl bei Weitem überwiegen - wobei Erstere bis auf den heutigen Tag dafür sorgen, dass neue Arten entdeckt und klassifiziert werden. Das Konzept der künstlich natürlichen Umgebung für in Gefangenschaft gehaltene Tiere entsteht mit dem Aquarium. Es wird erst weit später auf den Umgang mit Landtieren übertragen. Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Eisen-Glas-Architektur des späten 19. Jahrhunderts und dem Aquarium, worin Jules Vernes literarische Vorstellungen eines Unterseeboots eingehen, die dann wiederum den Bau von Aquarien inspirieren. Und schließlich wird das technisch avancierte Aquarium mit seinen Anschlüssen an das kommunale Wassernetz, mit seinen Filtern und Pumpen zum Modell für die Modernisierung ganzer Städte.

Den Tieren, erklärte der britische Kunsthistoriker und Schriftsteller John Berger in einem Essay aus dem Jahr 2009, falle in zoologischen Anordnungen stets die Position des Beobachteten zu. Alles Wissen über Tiere sei zugleich ein Zeichen ihrer Unterwerfung, was man auch daran merke, dass Tiere im Zoo selten ihre Beobachter anschauten. Für das Aquarium indessen kann dieser Satz allenfalls mit Einschränkungen gelten. Denn wie sollte der Betrachter wissen, ob dieser Buntbarsch oder jener Zahnkarpfen zurückschaut, um von Garnelen oder gar Seeanemonen gar nicht anzufangen? Andererseits ist die Unmöglichkeit, Fische zu domestizieren - auch wenn es etliche Fische gibt, die für die Verwendung in Aquarien gezüchtet sind -, einer der Gründe, warum die Aquarien ins bürgerliche Interieur vordrangen: "Der tyrannische, allgewaltige, unbändige Ocean fluthet nun auf unserem Tische, und wir können nun das Leben aus der Tiefe auf dem Tische studiren, im Schlafrock und Pantoffeln", heißt es in einem der ersten deutschsprachigen Artikel über Aquarien, 1854 erschienen in der Zeitschrift Die Gartenlaube. Dort flutet er immer noch, in einer der bizarrsten Verbindungen von Natur und Kultur, die es je gab.

Mareike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840 bis 1910). Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 424 Seiten, 37 Euro.

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SZ vom 01.02.2019
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