Der Mann ging zwar bitterarm zugrunde, aber posthum wurden ihm Ehren aller Art zuteil. Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise thront Oscar Wildes monumentales Grab über der Sepulkral-Landschaft: ein Monolith mit steinerner Sphinx-Applikation, hart und zart zugleich. Gerade so hat Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke sein Stück "A Wilde Story" angelegt: fünfundsiebzig Minuten über den Dichter und Dandy, der all das erlebt und erlitten hat, was im Zeitalter von LGBTQIA+ endgültig in der historischen Versenkung verschwinden soll. Namentlich Diskriminierung, Ausgrenzung, Bestrafung. Wilde liebte Männer und Frauen. Dafür drangsalierte ihn der viktorianische Tugendterror, bis er hinter Gittern landete. Die Haft kostete ihn nicht nur die künstlerische Reputation und das wirtschaftliche Auskommen, sie führte auch seinen körperlichen Ruin herbei. Wie lässt sich davon auf der Tanzbühne erzählen?
Indem man Marco Goecke freie Hand lässt. Der Fünfzigjährige ist gewissermaßen der Auteur unter den Gegenwartschoreografen: ein Tanzkalligraf mit unverwechselbarer Handschrift, einer ebenso eleganten wie erratischen Signatur, die seine ikonischen Schöpfungen beseelt und beflügelt. Vor Kurzem hat der gebürtige Wuppertaler den Deutschen Tanzpreis entgegengenommen, die höchste Auszeichnung der Sparte. Eine überfällige Ehrung. Die rund achtzig Werke, die der Choreograf binnen zwei Jahrzehnten für nationale wie internationale Kompanien geschaffen hat, dokumentieren seinen virtuosen Umgang mit literarischen, musikalischen und biografischen Stoffen. Zudem stehen sie für eine überaus raffinierte (und performativ höllisch schwer zu buchstabierende) Tanzsprache.

Goecke zergliedert Bewegung, er löst sie aus dem organischen Fluss und rhythmisiert sie entlang hörbarer Atemstöße. Seine Ästhetik überspitzt das Idiom des klassischen Tanzes und beschleunigt es maximal. Nur logisch, dass dabei auch die Wahrnehmung der Betrachter ins Schleudern gerät. Hängen bleiben funkelnde Impressionen, kinetische Gespinste - und das Gefühl einer atmosphärischen Verdichtung.
Wie schon für das Tänzerporträt "Nijinski" (2016) sprengt Goecke auch bei "A Wilde Story" in der Staatsoper Hannover den biografischen Rahmen, um den fatalen Widerspruch zwischen individueller Glückssuche und gesellschaftlichem Komment zu beschreiben. In elf Bildern collagiert er Leben und Werk Oscar Wildes (1854-1900) zu einer manischen Reise in die Finsternis. Hin und wieder bricht eine Lichtachse auf, oder es pudern Pastellschimmer à la Lyonel Feininger die Arkaden im Hintergrund der Bühne. Davor heftet das fabelhafte Staatsballett szenische Partikel aus dem Leben des Dichters aneinander: Ehe und literarische Erfolge, die Liaison mit Lord Alfred Douglas, schließlich soziale Ächtung, Anklage und Verurteilung aufgrund homosexueller Beziehungen.

Goecke schiebt Ausschnitte aus Wildes kunstvollen Märchen, Gedichten und dem "Bildnis des Dorian Gray" dazwischen. Ein Märchen wie "Der glückliche Prinz" von 1888 nimmt den Pauperismus der Postindustrialisierung ins Visier und übt historische Klassen- und Gesellschaftskritik. Goeckes Interpretation richtet den Blick auf die Gegenwart. Seine getanzte Version spiegelt Wohlstandswahrungsgelüste und die Vereitelung demokratischer Teilhabe. Auch das ewig schöne, ewig junge "Bildnis des Dorian Gray" aus Wildes Feder wirkt wie gemacht für das 21. Jahrhundert: Triumph der Egomanie, Selbstoptimierungswahn und gnadenloser Faltenfrei-Kult.
Letztendlich gehrt es um die Frage: Was hat es mit der Liebe auf sich?
Statt Fakten gegen Fiktionen abzugrenzen, verschachtelt und verzahnt Marco Goecke das Schicksal und die Kunstfantasien seines Titelhelden (fulminant: Conal Francis-Martin) miteinander. Er inszeniert eine hermetische Kunstwelt, die letztlich um die Frage kreist: Was hat es mit der Liebe auf sich? Der Choreograf beantwortet sie eindeutig: Anziehung, Hingabe, Erotik, Sex - alles gut und schön. Aber in der Tiefe unserer Seelen bleiben wir Gefangene der Einsamkeit. Leidenschaftliche Küsse, wechselseitige Masturbationen und Streicheleinheiten - all das tröstet und täuscht bei Goecke nicht darüber hinweg, dass sich nur zwei Monaden streifen. Wenn auch von spätromantischem Klangfuror aus dem Orchestergraben befeuert.
Marco Goeckes "A Wilde Story" ist ein Wurf, der sich zum Fragmentarischen, Vorläufigen, Unfertigen, Utopischen bekennt. Zum Traum von der absoluten Liebe, der an der Realität zerbricht. Und an einer Normenkontrollsucht, die bis heute willkürlich zwischen falsch und richtig unterscheidet. "A Wilde Story" ist das denkbar beste Tanz-Plädoyer dagegen.

