Timefulness. Man kann den Neologismus nur notdürftig ins Deutsche übersetzen, schließlich lehnt er sich im Englischen bewusst an die allerorten geforderte "Mindfulness" an, die bei uns als "Achtsamkeit" Konjunktur feiert und das bewusste, wertschätzende Wahrnehmen des Augenblicks meint. Der amerikanischen Geologin Marcia Bjornerud geht es mit ihrem titelgebenden Begriff der Timefulness um eine Art komplementäres Bewusstsein zur Mindfulness, diagnostiziert sie doch einen kollektiven "zeitlichen Analphabetismus: Wenn ein Erwachsener mit Schulabschluss nicht in der Lage ist, auf einer Weltkarte die Kontinente zu bezeichnen, zeigen wir uns schockiert, sind gleichzeitig aber ziemlich schmerzfrei, was die Unkenntnis selbst der gängigsten Höhepunkte des Planeten anbelangt (mhm, Beringstraße... Dinosaurier ... Pangaea?)" Der tiefere Grund für diese Unwissenheit liegt ihrer Meinung nach in unserer Chronophobie, also der kollektiven Angst vor der Zeitlichkeit.
Bjornerud, Professorin für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin und regelmäßige New-Yorker-Autorin, möchte bei ihren Lesern ein Gefühl für die "Tiefenzeit" entwickeln, dafür also, dass unsere Gegenwart auf 4,5 Milliarden Jahren aufliegt, wodurch die gesamte Geschichte der Menschheit zu einer hauchdünnen Staubschicht auf kilometerdicken Granitsockeln schrumpft.
Sie nimmt einen auf nur 243 Seiten mit auf eine enorme geologische Reise, quer durch Superkontinente, ewige Eiszeiten, biochemische Umwälzungen und Aussterbephasen. Dabei schreitet sie nicht öde den Zeitstrahl ab, sondern fängt mit der eigenen Verwunderung darüber an, wie Menschen überhaupt daraufkamen, die vermeintlich so stabilen geologischen Verhältnisse erstmals als permanenten gigantischen Wandlungsprozess zu lesen.
Der Arzt James Hutton entdeckte, dass die Erde sich in Millionen von Jahren permanent wandelt
Schließlich war bis ins 19. Jahrhundert sonnenklar, dass diese Erde eine Art statische Bühne ist, die Gott dem Menschen vor rund 6000 Jahren aufgestellt hat, auf dass er darin Krone der Schöpfung spiele. Bis der Arzt James Hutton 1789 an einem stürmischen Kap an der schottischen Küste erkannte, dass die vor ihm aufragende Felswand aus verschiedenen Gesteinsschichten bestand, die einstmals am Grund des Meeres gelegen haben mussten, sich dann gehoben hatten, im Lauf der Zeit erodiert waren - und dass all das Millionen Jahre gedauert haben muss und bis heute weitergeht. Im Grund war dies die Geburtsstunde der Geologie.
Nun ist die Geologie im Vergleich zur Physik mit ihrem Astro-Glamour und ihren quantenmechanischen Zaubereien so was wie die graue Cousine der Naturwissenschaften. Zum einen, so Bjornerud, "haben die meisten Menschen keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten" (in Amerika fristet die Geologie ein derart stieftöchterliches Dasein, dass viele Wissenschaftler ihre Projekte mittlerweile als "Astro-Biologie" labeln, um überhaupt an Forschungsgelder zu kommen). Zum anderen geht es nun mal in erster Linie darum, aus Steinen zu lesen, was wann wie passiert sein könnte. Was sehr viele Geologiefachbücher tatsächlich recht trocken und eben auch steinschwer macht.
Auch Bjornerud macht es Laien eingangs etwas schwer, wenn sie die verschiedenen Datierungsverfahren und isotopenchemischen Feinheiten erklärt, sagt aber selbst, man könne das überspringen, was man, bevor es einem zu schwer wird, tatsächlich unbedingt tun sollte, schließlich findet sie als Reiseführerin immer wieder so treffende Bilder, dass man diese aufheben möchte wie einen besonders schönen Kiesel: Steine sind "keine Substantive, sondern Verben - sichtbare Belege für Prozesse, Zeugen von Ereignissen, die sich über lange Zeitspannen hinweg zugetragen haben".
Der Planet ist nicht einfach nur eine Marionette
Oder hier: "Das Leben selbst hat sich die moderne Atmosphäre geschaffen, hat in gewissem Sinne seine eigene chemische Verfassung geschrieben." Oder als es um die vielen verschiedenen Zeitzyklen geht, die permanent ineinanderspielen und einander beeinflussen: "Der Planet ist nicht einfach nur eine Marionette, die zu den Rhythmen der astronomischen Zyklen tanzt, sondern er greift diese Rhythmen auf und spielt seine eigenen Riffs dazu."
Zum anderen aber bezieht ihr Buch seine Wucht daraus, dass sie aus der Ferne der Tiefenzeit heraus klarmacht, was auf dem Spiel steht. In den viereinhalb Milliarden Jahren Erdgeschichte hat sich die Atmosphäre viermal grundlegend geändert. Was wir für völlig natürlich halten, dieses lebensspendende Gemisch aus genau austarierten Mengen an Stickstoff, Sauerstoff, Argon, begann "erst" vor 350 Millionen Jahren der heutigen Zusammensetzung zu ähneln.
Beeindruckender noch als diese Geschichte der Atmosphäre ist die Geschichte der großen Massenaussterben. Bis auf das bekannteste am Ende der Kreidezeit (Bye, Dinos!), bei dem der Meteoriteneinschlag vor der Küste von Yucatán großen Anteil hatte, wurden alle anderen Kataklysmen durch rasche Klimaänderungen verursacht; jedes Mal kann man starke Störungen des Kohlenstoffkreislaufs und des CO2-Gehalts in der Atmosphäre nachweisen; und jedes Mal hat sich die Chemie der Ozeane verändert.
Klingt nach haargenau dem Rezept, das die Menschheit momentan anrührt. Nur dass die Veränderungen diesmal statt in Zehntausenden Jahren erdgeschichtlich gesehen in Sekundenbruchteilen vonstatten gehen und bereits jetzt alles ins Rutschen bringen. Auf der Quelccaya-Gletscherkappe in den Anden ist in den letzten zwei Dekaden das Eis aus 1600 Jahren verschwunden. "Die im Englischen übliche Nebenbedeutung von glacial als ,unmerklich langsam' ist mittlerweile fast ein Anachronismus; heute gehören Gletscher zu den Naturgebilden, die sich am raschesten verändern."
Die Gegenaufklärung macht der Autorin das Leben schwer
Bjornerud schafft etwas, was selten gelingt: Man taucht aus ihrem Text auf, als hätte einem jemand die Sehschärfe verändert, so groß sind die Räume, Kräfte, Zeitläufte, die sie einem zeigt. Erosion, klar kennt man, da wird Oberfläche weggewaschen. Aber wenn man liest, dass am Grund des Indischen Ozeans, im bengalischen Fächer, der von Ganges und Brahmaputra gespeist wird, mehr Himalajagestein liegt, als die Gebirgskette heute an Gesamtvolumen besitzt, bekommt diese Grundgestaltungskraft doch eine ganz andere Macht.
Beklemmend, wie weit fortgeschritten die Gegenaufklärung in den USA anscheinend mittlerweile ist. Junge-Erde-Anhänger, Kreationisten und Vollblutapokalyptiker scheinen Bjornerud das Unterrichten an ihrer Fakultät derart schwer zu machen, dass sie sich gleich zu Beginn gezwungen sieht, klarzustellen: Nein, Gott hat die Erde nicht vor ein paar Tausend Jahren geschaffen.
Man ist beim Lesen noch gar nicht fertig mit dem Kopfschütteln über dieses Aufblühen des Mittelalters mitten im avancierten Wissenschaftsbetrieb, als sie hinzufügt, all diese evangelikalen Eiferer würden ihre Chronophobie immerhin offen zur Schau stellen. Viel gefährlicher sind in Bjorneruds Augen die unsichtbaren Formen der Zeitverleugnung, die tief in die Hardware unserer Ökonomie und politischen Verfasstheit eingebaut sind, das Prinzip des ewigen Wachstums etwa oder die schnellen Wahlzyklen, die langfristige Politik fast unmöglich machen.
Die Mikroben stört das Massenaussterben nicht, sie machen weiter
Wenn man wieder auftaucht aus den 243 Seiten, staunt man nur über den Zerstörungsfuror, mit dem dieses einmalig filigrane planetarische Mobile gerade wieder mal in Richtung Massenaussterben gelenkt wird. Was für den Planeten und das Leben nicht sonderlich störend ist, die Mikroben machen weiter, wie sie immer weitergemacht haben nach planetarischem Tabula Rasa. Für uns ist es halt relativ schade.
Gleichzeitig hält sie nichts von apokalyptischem Fatalismus - und kritisiert sogar ihre eigene Zunft für das immer gern zitierte Bild vom Menschen, der im Vergleich der Erdgeschichte mit einem 24-Stunden-Tag erst Sekundenbruchteile vor Mitternacht auftritt. In ihren Augen ist das ein verqueres, ja sogar unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit. Denn es legt eine Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, die nicht nur psychologisch befremdlich sind, sondern auch das Ausmaß verdrängt, mit dem die Menschheit in dieser letzten Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt.
Bildband Skitourismus:Schöner klotzen
Betten in Beton: Ein faszinierender Bildband zeigt die Skizentren der französischen Alpen im Sommer. In den warmen Monaten sind die Hotelkästen so verlassen wie jetzt im Lockdown. Sie stehen wie Findlinge in der Gegend herum.
In Bjorneruds Augen hilft gerade die Geologie dabei, "einen Mittelweg zwischen den Sünden narzisstischen Hochmuts einerseits und existenzieller Verzweiflung angesichts unserer Bedeutungslosigkeit andererseits" zu finden. Sie hält es deshalb mit dem polnischen Rabbi Simcha Bunim, der im 18. Jahrhundert riet, man solle zwei Zettel in seinen Taschen tragen: Auf dem einen steht "Ich bin Asche und Staub", auf dem anderen "Die Welt ist eigens für mich geschaffen worden".
Auch ohne diese Zettel hat man nach dem Lesen erstmals ein Gefühl von intergalaktischer Dankbarkeit: Schließlich hatte dieser Planet nur so viel Zeit, mit immer neuen Lebensformen zu experimentieren, weil er um einen gelben Zwerg kreist. Sterne, die nur 50 Prozent größer sind als die Sonne, haben eine Lebenserwartung von nur drei Milliarden Jahren. Das heißt, vor eineinhalb Milliarden Jahren wäre Schluss gewesen. Da war hier alles noch extrem öd und leblos. In diesem Sinne: Guten Rutsch, all ihr staubigen Wunderwesen, übermorgen kommt zu den 4 550 000 000 Jahren ein wertvolles, neues hinzu.
Marcia Bjornerud: "Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten." Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 245 Seiten, 28 Euro.