Marcel Reich-Ranicki und Polen:Ein schwieriges Verhältnis

In seinem Geburtsland Polen hat Marcel Reich-Ranicki begeisterte Anhänger und erbitterte Gegner. Zwar förderte er in seiner Karriere als Literaturkritiker viele polnische Autoren. Zugleich wird ihm vorgeworfen, auf Umwegen die deutsche Kriegsschuld relativiert zu haben.

Von Thomas Urban

In dem Land, in dem er als Marceli Reich geboren worden war, kannte nur eine Handvoll Intellektueller seinen Namen, Literaturwissenschaftler wie Geheimdienstexperten. Bei beiden Gruppen hatte er begeisterte Anhänger und erbitterte Gegner. Gleichzeitig waren auch seine eigenen Beziehungen zu Polen von Anfang an schwierig, beginnend damit, dass er im großen Krisenjahr 1929 als Neunjähriger das heimatliche Weichselstädtchen Wloclawek verlassen musste, weil der Vater arbeitslos geworden war. Ein Verwandter in Berlin nahm ihn auf. Sein Lebensweg steht ebenso wie die Debatten um ihn geradezu idealtypisch für das vielschichtige Dreieck Deutsche - Juden - Polen, das immer wieder zu Missverständnissen führt und nicht selten bittere Emotionen hervorruft.

Nach neun Jahren in Berlin wurde er im Rahmen der "Polen-Aktion" der NS-Führung über die Grenze Richtung Osten deportiert, mit 17.000 anderen polnischen oder staatenlosen Juden. Doch die Behörden in Warschau waren an den Rückkehrern in keiner Weise interessiert. Ein Teil wurde tagelang im Niemandsland zwischen den Grenzposten festgehalten. Die Warschauer Führung war offen antisemitisch eingestellt, in den Universitäten gab es Numerus clausus und abgesonderte Sitzplätze für Juden, rechtsextreme Leitartikler forderten ihre Deportation nach Madagaskar, der Primas, Kardinal August Hlond, warnte in einem Hirtenbrief vor den Juden, die dem Land nur Bolschewismus und Pornografie brächten, und forderte seine katholischen Landsleute auf, "mit ihnen keine Geschäfte zu machen".

Dieses Klima hat das Polenbild des damals 18-jährigen Marceli Reich tief geprägt, auch wenn es zunächst von den Schrecken der deutschen Besatzung überlagert wurde. Im Warschauer Ghetto arbeitete er als Schreiber für den Judenrat, der zynisch von der Gestapo als Spitze der "Selbstverwaltung" eingerichtet worden war. Nach dem Krieg brach, nicht zuletzt angestoßen durch Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem", eine Debatte darüber aus, ob die Mitglieder und Mitarbeiter der Judenräte nicht Kollaborateure gewesen seien. Reich-Ranicki selbst hat dazu nie Stellung genommen. Gemeinsam mit seiner Frau Teofila, die er im Ghetto heiratete, konnte er aus dem Ghetto fliehen und somit dem wohl sicheren Tod in Treblinka entgehen, nachdem er Wachposten bestochen hatte. Die Familie eines polnischen Schriftsetzers versteckte beide bis zum Ende der deutschen Besatzung.

Wie Tausende junge Juden, die den Holocaust überlebt haben, setzte er unmittelbar nach dem Krieg seine Hoffnung in den Kommunismus und trat der stalinistischen Geheimpolizei UB bei. Jüdische UB-Offiziere wurden bevorzugt in den deutschen Ostgebieten eingesetzt, in denen vom Frühjahr 1945 an eine polnische Verwaltung aufgebaut wurde. Reich-Ranicki schrieb in seinen Memoiren, er sei für die Postkontrolle in Oberschlesien zuständig gewesen. Dass er als Kommandant in einem Arbeitslager für die deutsche Bevölkerung zum Einsatz gekommen sein soll, wie immer wieder in Publikationen der Landsmannschaft Schlesien behauptet wurde, konnte anhand der UB-Akten widerlegt werden.

Allerdings gibt es in seinen Nachkriegsjahren aus polnischer Sicht einen viel größeren dunklen Fleck: seine Zeit als Konsul in London. London war der Sitz der polnischen Exilregierung, die von den Stalinisten als große Bedrohung angesehen wurde. In Berichten von Zeitzeugen taucht Reich-Ranicki dort auf, als fanatischer Parteigänger des Regimes. Er selbst hat aggressiv und polemisch auf den Vorwurf reagiert, er habe sich daran beteiligt, unter falschen Versprechen Exilpolen nach Warschau zu locken, wo diese zum Tode verurteilt worden sind. Aus Sicht der Historiker ist dieses Kapitel bis heute nicht aufgeklärt, weil die Akten des Außenministeriums und der Auslandsspionage teilweise noch gesperrt sind.

Übersiedlung als Reaktion auf Politikwechsel

Vom UB-Apparat wechselte er in die Publizistik, die nicht minder rigide vom stalinistischen Apparat kontrolliert wurde. Dass in dieser Zeit vorübergehend über ihn auch ein Publikationsverbot verhängt wurde, fällt dem gegenüber in den Augen seiner polnischen Kritiker kaum ins Gewicht.

Seine Übersiedlung in die Bundesrepublik sehen polnische Historiker auch als Reaktion auf den Wechsel in der polnischen Parteiführung 1956: Auf die Stalinisten, unter denen aus jüdischen Familien stammende Funktionäre Spitzenstellungen bekleideten, folgten die Nationalkommunisten um Wladyslaw Gomulka, die diese sukzessive verdrängten.

Im Laufe der Jahre hat sich Reich-Ranicki aus der Sicht der bundesdeutschen Literaturkritik große Verdienste um die Propagierung polnischer Autoren der Gegenwart erworben. Verwiesen wird auf Andrzej Szczypiorskis im Zweiten Weltkrieg spielenden Roman "Die schöne Frau Seidenman" (1988), der dank des von Reich-Ranicki veranlassten Abdrucks in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Bestseller wurde. Doch in Polen ist dieses Buch überaus umstritten, denn es bricht mit dem fest gefügten Täter-Opfer-Schema: Es gibt in ihm einen anständigen deutschen Soldaten, einen habgierigen Polen, der den verfolgten Juden ihr letztes Eigentum abpresst, und einen Juden, der seine Leidensgenossen sogar verrät. So hat denn ein Teil der polnischen Kritik ein Verdikt gefällt: Reich-Ranicki würden seine Sünden aus der Stalinzeit von den Deutschen verziehen, weil diese Hitler gehabt hätten. Und er werde geliebt, weil er Bücher gefördert habe, die die deutsche Schuld relativierten.

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