Marcel Reich-Ranicki ist tot:Der Mann, der uns das Lesen lehrte

Meistgelesen, meistbeachtet, meistgefürchtet: Der Popstar der Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, war ein umstrittener Zeitgenosse. Nun endet sein Wirken, reich an Dramatik, Intensität - und Leidenschaft.

Ein Nachruf von Ruth Schneeberger

Marcel Reich-Ranicki ist tot. Mit ihm starb Deutschlands berühmtester Kritiker, einst meistgefürchtet und zu seiner Zeit meistgelesen. Er als Person, seine harschen Kritiken und deren Widerhall sorgten jahrzehntelang für Debatten, im TV, in den Zeitungen und in der öffentlichen Diskussion. Reich-Ranicki polarisierte. Und legte damit eine rasante Karriere hin - in einem Land, aus dem er in jungen Jahren deportiert worden war. Und in einer Branche, in der an Karrieren wie diese kaum noch jemand geglaubt hatte. Reich-Ranickis Leben, auch außerhalb der Literaturkritik, war zudem ein Abenteuer unglaublichen Ausmaßes. Und das auch noch gewürzt mit einer Liebesgeschichte, so rührend wie Hollywood sie kaum hätte erdenken können.

Als Marcel Reich-Ranicki am 2. Juni 1920 in Włocławek an der Weichsel als Marceli Reich geboren wurde, wies nichts darauf hin, dass er es in Deutschland einmal zum berühmtesten Literaturkritiker aller Zeiten, gar zum Popstar der Kritik, und außerdem zu einer der schillerndsten Personen der deutschen Nachkriegskultur bringen würde. Der Vater David, ein polnischer Jude, war musisch begabt, aber für seinen Beruf als Kaufmann eher ungeeignet. Während der Weltwirtschaftskrise musste seine Firma Konkurs anmelden. In seiner Biographie "Mein Leben" schrieb Reich-Ranicki 1990: "Den beinahe traditionellen Konflikt zwischen Vater und Sohn habe ich nie kennengelernt. Wie hätte auch ein solcher Konflikt entstehen können, da ich meinen Vater niemals gehasst und leider auch nie geachtet, sondern immer bloß bemitleidet habe."

Vom Außenseiter zum Musterschüler

Zusammen mit Mutter Helene, einer deutschen Jüdin, die dem Sohn das Interesse für deutsche Kultur und Sprache und die Skepsis gegenüber der Religion vermittelte, und den älteren zwei Geschwistern übersiedelte die Familie 1929 nach Berlin. Als Gymnasiast fing Reich (den Doppelnamen legte er sich erst später zu) dort an, Leidenschaft für Literatur zu entwickeln. Zunächst wegen seines polnischen Akzentes verspottet, gab ihm die Mutter den Rat, stets zu versuchen, der Beste zu sein. Er beherzigte den Ratschlag der Mutter, die er im Gegensatz zum Vater Zeit seines Lebens verehrte, und avancierte zum Vorzeigeschüler im Deutschunterricht.

Marcel Reich-Ranicki

Im Jüdischen Museum in Frankfurt wurde zum 90. Geburtstag des Kritikers 2010 das Wohnzimmer des Ehepaares Teofila und Marcel Reich-Ranicki nachgebaut. Das Foto im Bild zeigt das Paar im Jahr 2003.

(Foto: ddp)

Das Abitur konnte er 1938 noch machen, zum anschließenden Studium wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung im damaligen Nazi-Deutschland aber nicht zugelassen. Stattdessen wurde er verhaftet, nach Polen ausgewiesen und lebte von 1940 an zweieinhalb Jahre lang zwangsweise im Warschauer Ghetto, wo er als Übersetzer für den "Judenrat" arbeitete. Diese Stelle als Verbindungsmann zwischen den jüdischen Bewohnern und den deutschen Behörden im größten jüdischen Ghetto Europas brachte ihm einige Vorteile: Zwar war die Bezahlung gering und die Zusammenarbeit mit den deutschen Peinigern inmitten von Hunger, Elend, Leid und Tod von den Ghettobewohnern nicht gerne gesehen. Doch immerhin: Er hatte Arbeit und konnte überleben.

Außerdem lernte Reich im Ghetto im Alter von 19 Jahren seine spätere Frau kennen - unter denkwürdigen Umständen. Am 21. Januar 1940 wurde ein jüdischer Nachbar der Familie Reich in seiner Wohnung tot aufgefunden: Pawel Langnas, ehemals erfolgreicher Geschäftsmann aus Lodz, hatte sich umgebracht - nachdem er von Deutschen enteignet und gedemütigt worden war. Tochter Tosia hatte ihn gefunden und noch versucht, ihn von seinem Selbstmordwerkzeug, dem Hosengürtel, loszuschneiden - vergeblich. Helene Reich schickte daraufhin ihren jüngsten Sohn sofort in die Nachbarswohnung - mit den Worten: "Kümmere Dich um das Mädchen!" In seiner Biographie schrieb Reich-Ranicki später: "Ich habe diesen Satz, diese Ermahnung nie vergessen. Ich höre sie immer noch."

Leicht entzündliches Temperament

Biograph Uwe Wittstock schreibt 2005 in "Marcel Reich-Ranicki - Geschichte eines Lebens": "Tatsächlich entwickelt sich aus der Begegnung der beiden Neunzehnjährigen in der Wohnung des soeben aus dem Leben geschiedenen Vaters Langnas eine innige Liebe und (...) Ehe. In der folgenden Zeit ist das Paar unendlich vielen Gefahren ausgesetzt, doch die Bedrohung zerrüttet die Bindung nicht, sondern lässt sie fester werden: Als Marceli Reich beispielsweise im Warschauer Ghetto erfährt, dass eine Heirat die Überlebenschancen von Tosia Langnas kurzzeitig erhöhen könnte, arrangiert er innerhalb weniger Stunden eine Hochzeit mit ihr. Oder als eine Verwandte der Familie Langnas ein Versteck vor den Deutschen für Tosia allein anbietet, entscheidet sie sich, trotz allem bei ihrem Mann zu bleiben, und nimmt damit unabsehbare Risiken, ja im Grunde ein sicheres Todesurteil in Kauf. Auch später retten die beiden einander in verschiedenen Situationen reaktionsschnell und mit enormem Mut das Leben."

Ausstellung 'Für Marcel Reich-Ranicki'

Marcel Reich-Ranickis Leben war reich an Dramatik.

(Foto: dpa)

1943 gelang dem Paar - unter wiederum dramatischen Umständen - die Flucht aus dem Ghetto. Der Film "Mein Leben - Marcel Reich-Ranicki" (2009) mit Matthias Schweighöfer als jungem Marceli und Katharina Schüttler als Tosia erzählt in eindrucksvollen Bildern davon, wie beide daraufhin den Holocaust im Untergrund überlebten, während die meisten ihrer engsten Familienmitglieder von Nationalsozialisten ermordet wurden. Reich-Ranicki sagte noch 2009 in einem Interview der FAZ, dass er nach wie vor jeden einzelnen Tag an die furchtbare Zeit im Ghetto denken müsse.

Vorwurf der Beihilfe zum Mord

Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee 1944 meldete sich der 24-Jährige - völlig unterernährt - freiwillig zum Dienst in der polnischen Armee, trat zwei Jahre später der Kommunistischen Partei bei und wurde nach Berlin versetzt, wo er im polnischen Außenministerium und beim Geheimdienst arbeitete, bevor er 1948 zum Konsul im polnischen Generalkonsulat in London berufen wurde. In dieser Zeit änderte er seinen Namen in Marceli Ranicki, weil "Reich" seinen Vorgesetzten zu Deutsch klang. Ranicki: "Der Name ist mir eingefallen, weil ich gerade ein Mädchen kannte, das Ranicka hieß. Ein reiner Zufall."

Ein Jahr später bat er um seine Abberufung - aus politischen Gründen -, ging zurück nach Warschau und wurde im Jahr darauf, 1950, aus dem Geheimdienst entlassen. Die Kommunistische Partei schloss ihn wegen "ideologischer Fremdheit" aus und ließ ihn für Wochen erneut inhaftieren - in einer Einzelzelle. Dies war das Ende seiner politischen Karriere.

Später sollte ihm in Deutschland eben jene berufliche Tätigkeit vorgeworfen werden - weil er während seiner Arbeit für den polnischen kommunistischen Geheimdienst regimekritische Exilpolen unter falschen Vorwänden in ihre Heimat zurück gelockt habe. Einige davon seien daraufhin vom polnischen Regime zum Tode verurteilt worden, wie ihm Journalist Tilman Jens, Sohn des bis dahin mit Reich-Ranicki befreundeten Philologen Walter Jens, 1994 im WDR-"Kulturweltspiegel" vorhielt. Diesem Vorwurf einer regelrechten Beihilfe zum Mord widersprach Reich-Ranicki vehement als "völlig erlogen". Zehn Jahre später versöhnte er sich mit Walter Jens, kurz vor dessen schwerer Demenzerkrankung, die Sohn Tilman daraufhin - auf ebenfalls umstrittene Art - in der FAZ publik machte.

Nach dem Ende seiner politischen Kurzkarriere wandte sich der ehrgeizige Reich-Ranicki auch beruflich der geliebten Literatur zu. Zunächst noch nicht sonderlich erfolgreich und zudem zwischendurch anderthalb Jahre lang mit einem Publikationsverbot durch die polnischen Behörden belegt, schrieb er für Zeitung und Rundfunk und arbeitete als Lektor, danach veröffentlichte er auf Polnisch unter anderem "Die Epik der Anna Seghers" (1957) und kritische Einleitungen unter anderem zu Werken von Goethe, Fontane, Storm, Hesse, und Heinrich Mann.

Von einem Studien-Aufenthalt in der BRD kehrte er 1958 nicht wieder nach Polen zurück. Hier fand er Unterstützung von Schriftstellern wie Heinrich Böll und Siegfried Lenz - und legte einen erstaunlichen Aufstieg hin. Ohne Studium, Diplome oder Zertifikate ausgestattet, zog er 1959 von Frankfurt, wo er der "Gruppe 47" angehört hatte, nach Hamburg und arbeitete 13 Jahre lang als Literaturkritiker für die Zeit. In dieser Zeit erarbeitete er sich einen internationalen Ruf als besonders scharfzüngiger Kritiker.

Kritik ohne Ende

In klarem Stil, verständlich, meist ohne Fremdwörter oder Verschnörkelungen, dafür reich an Bildern, machten seine Kritiken in der Literaturszene nicht nur Eindruck. Reich-Ranicki machte sich damit unter den Autoren auch ziemlich schnell Feinde. Martin Walser, Peter Handke und auch Günter Grass wurden von ihm nicht gerade freundlich besprochen, die handfeste Gegnerschaft wurde später gar in literarischen Werken verarbeitet (zum Beispiel in Walsers Roman "Tod eines Kritikers") und publizistisch groß aufbereitet (zum Beispiel mit dem Verriss Reich-Ranickis über Günter Grass' neues Buch als Spiegel-Titel-Story unter Überschrift "Mein lieber Günter Grass", 1995).

Manch persönliche Fehde wurde später, in hohem Alter aller Beteiligten, teilweise beigelegt - manche aber auch nicht. Zu tief hatte einige Autoren, Kollegen und Mitstreiter die scharfe Kritik des Literaturpapstes getroffen, der 1973 zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wechselte - und bis zum Ruhestand 1988 als Literaturchef der FAZ die Redaktion für Literatur und literarisches Leben leitete.

Nebenher lehrte er, der selbst nicht studieren durfte, in verschiedenen Honorar- und Gastprofessuren in den USA, Schweden, Tübingen und Düsseldorf Literatur, hielt Vorträge in Israel, Kanada, Australien, Neuseeland, China und Europa, und war Mitinitiator des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis, dessen Sprecher er von 1977 bis 1986 war. Doch wegen seines überaus leicht entzündlichen Temperaments machte der international geachtete Reich-Ranicki auch seinen Ruhestand zum Unruhestand - und immer wieder Furore.

Der alte Mann und das Fernsehen - eine Hassliebe

Thomas Gottschalk und Marcel Reich-Ranicki

Noch lebhaft in Erinnerung: "Ich nehme diesen Preis nicht an!" Reich-Ranickis Wutrede bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2008 im ZDF, neben dem verblüfften Thomas Gottschalk. 98 Prozent der Deutschen kannten damals den Namen Marcel Reich-Ranicki - ein Umfragewert, der jeden Politiker vor Neid erblassen lässt.

(Foto: dpa)

Eigentlich ging seine Kritikerkarriere erst richtig los, als er einem Massenpublikum über das Fernsehen bekannt wurde, mit seiner ZDF-Büchersendung "Das literarische Quartett". Von 1988 bis 2001 wurden unter seiner Leitung und mit teils wechselnden Partnern aus der Literaturkritik, wie Helmut Karasek und Iris Radisch, mehr als 400 Bücher überaus lebhaft besprochen. So diskussionsfreudig und bisweilen polemisch gar, dass die Sendung etwa ein Jahr nach einem Eklat um persönliche Attacken gegen seine Kritikerkollegin Sigrid Löffler schließlich abgesetzt wurde. Eine Zeit lang wurde danach noch "Reich-Ranicki solo" ausgestrahlt.

Für weitere Eklats sorgte er 1994, als seine Vergangenheit als Geheimdienstler öffentlich diskutiert wurde, die er zunächst nicht zugeben wollte; 1995, als er Günter Grass im Spiegel derart verriss, dass eine emotional geführte Debatte sich in einen Literaturstreit und Grundsatzfragen darüber entlud, was Literatur (und deren Kritik) dürfe und was nicht; 2002, als die FAZ sich weigerte, einen Vorabdruck von Martin Walsers "Tod eines Kritikers" zu veröffentlichen, der sich mit der Rolle des ehemaligen FAZ-Kritikers Reich-Ranicki beschäftigte; und schließlich 2008, vielen noch in lebhafter Erinnerung, bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises in seinem Heimatsender ZDF, als er den Preis für sein Lebenswerk mit Hinweis auf das schlechte Niveau des deutschen Fernsehens ablehnte.

Durch seine stets laut und leidenschaftlich vertretenen starken Meinungen, die unterhaltsame Art nicht ohne Witz und fast nie ohne Pointe, seine auch für den Laien verständlich vorgetragene Expertise, gewürzt mit seinem unverkennbaren und stolz gepflegten Akzent, war das Publikum auch in Streitfragen oft auf seiner Seite. Es schätzte ihn als mutigen Charakterkopf, Leitwolf und unabhängigen Kritiker, der allen die Stirn bot und dabei höchste inhaltliche Schärfe mit einem geradezu drolligen Typus verband. Einem Reich-Ranicki, der von 2002 bis 2006 den "Kanon der deutschen Literatur" in 50 Bänden herausgab, nahm es seine streitlustige Ader jedenfalls so gut wie nie übel - im Gegenteil. Es bewunderte ihn dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nahm.

Der Mann, der Bücher zu Bestsellern machte oder vernichtete, der den Deutschen sagte, was sie zu lesen oder zu vernachlässigen hatten, war dem Publikum ein hochangesehener Anwalt der Lektüre. Das Praktische war: Der TV-Zuschauer musste diese Bücher dann selbst nicht mehr lesen. Für das gute Gewissen, sich darüber eine hinreichende Meinung gebildet zu haben, genügte vielen das Urteil des höchsten Kritikers, das er so gerne teilte. Reich-Ranicki und sein Publikum lebten von der Zuspitzung.

Abseits des Trubels lauerte die Einsamkeit

Nachdem im April 2011 seine Frau Teofila - mehr als 70 Jahre, nachdem sich die beiden kennengelernt hatten - gestorben war, zog sich Marcel Reich-Ranicki, bald 91-jährig, weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück.

Als besonders bewegend empfand die Öffentlichkeit einen seiner letzten Auftritte, am 27. Januar 2012, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Für diesen historischen Gedenktag reiste er noch einmal in Begleitung seines einzigen Sohnes, des in Edinburgh lebenden Mathematikprofessors Andrew Ranicki, mit dem Zug nach Berlin, um vor dem deutschen Bundestag eine rührende Rede zu halten. Als Zeitzeuge berichtete er ein letztes Mal vom Warschauer Ghetto, den Deportationen, und wie er als Übersetzer den Befehl zur Deportation der Mitbewohner ins Vernichtungslager Treblinka erlebt hatte.

Dabei machte er einmal mehr deutlich, mit wie viel Macht, Kraft und Überlebenswillen ihn seine große Leidenschaft, die Sprache, ausgestattet hatte. Um von einem ungelernten und einst gesellschaftlich geächteten Todgeweihten zu einem Zentralgestirn am deutschen Kritikerhimmel zu avancieren.

Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Im Bundestag erinnert Marcel Reich-Ranicki 2012 an die Opfer des Nationalsozialismus. 

(Foto: dapd)

Wie es dagegen in seinem Inneren aussah, das beschrieb Marcel Reich-Ranicki 2009 im FAZ-Interview selbst am besten:

Dazu befragt, ob er sich nach all den Jahren in Deutschland immer noch als Außenseiter fühle, antwortete er: "Natürlich! Aber das heißt nicht, dass ich undankbar bin oder gar unzufrieden mit dem Echo, das ich in diesem Land habe. Das ist enorm, es könnte gar nicht größer sein. Aber wissen Sie, Kritiker sind immer einsame Menschen. Ich habe das ganz genau erfahren durch meine Beschäftigung etwa mit Alfred Kerr. Warum war Kerr so einsam in der Weimarer Republik? Obwohl er so berühmt und anerkannt war? Er war einsam, weil er nur mit Menschen zusammen sein wollte, die Ähnliches taten wie er: mit Regisseuren, Dramaturgen, vielleicht Schauspielern. Die aber hatten immer Angst vor ihm, hatten Angst, dass er das, was er von ihnen hörte oder erfuhr, vielleicht in seinen Kritiken verwenden könnte. Vielleicht ist es mit mir ähnlich."

Als seine wahre Heimat hat er immer die deutsche Literatur bezeichnet - sie sei ihm ein "portatives Vaterland" gewesen. Womöglich lässt sich dadurch seine unabdingbare Leidenschaft für Literatur und Literaturkritik erklären, geradezu als Notwendigkeit, die er stets zu verteidigen wusste - mit aller ihm zur Verfügung stehenden Heftigkeit.

Jens Jessen, Feuilleton-Chef der Zeit, zitierte 1985 in dem Aufsatz "Über Marcel Reich-Ranicki" einen von Reich-Ranickis ältesten Freunden, Hansjakob Stehle: Der große Kritiker habe sich auch im Privaten mit einer "oft verletzenden Kruste, die seine Verletzungen schützt" vor weiteren Gefahren, und seien es nur kleineren, gepanzert.

In einem Focus-Interview im September 2012 verriet der Literaturkritiker, wie sehr er seinen letzten großen Gegner fürchtete: "Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis sie uns schließlich ganz auslöscht", sagte Reich-Ranicki dem Magazin. Nach dem Tod seiner Frau im vorherigen Jahr sei ihm der Gedanke an den Tod nicht nähergekommen. "Wenn man wie ich über 90 Jahre alt ist, steht einem der Tod immerzu vor Augen", sagte er, "noch näher kann er nicht kommen." Auch die Religion spende ihm keinen Trost: "Es gibt kein Weiterleben nach dem Tod. Das ist Wunschdenken." Religion sei wie eine Brille, die den Blick auf die Wirklichkeit trübe. Auch die Literatur könne ihm dabei nicht mehr helfen. "Mit dem Gedanken an den Tod kann man nicht fertig werden. Er ist völlig sinnlos und vernichtend."

Mit Marcel Reich-Ranicki starb nun nicht nur Deutschlands einflussreichster Literaturkritiker, ein Überlebender und eindrucksvoller Zeitzeuge des Holocaust und eine der umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts - sondern auch ein Kritiker der deutschen Seele. Und zugleich einer ihrer führenden Vertreter.

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