Marcel Reich-Ranicki:Die Kunst der Deutlichkeit

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Marcel Reich-Ranicki im Jahr 1999 (Foto: Regina Schmeken/SZ Photo)

Er war Stratege im Literaturkampf und ein brillanter Handwerker im Feuilleton. Eine Erinnerung an den Kollegen Marcel Reich-Ranicki, der wusste, dass man direkt sein musste - und schneller als die anderen.

Von Gustav Seibt

Zur ersten Begegnung wurde ich einbestellt, wie zu einem Rapport: "Erklären Sie mir in drei Minuten, warum man sich auf einmal wieder für das Mittelalter interessiert!" Es war kurz nach Mitte der Achtzigerjahre, Marcel Reich-Ranicki stand am Ende seiner Zeitungslaufbahn, ich war Anfänger in der Probezeit. Er hatte gehört, dass ich direkt von einem Mittelalterlehrstuhl kam, und er suchte Auskunft über Dinge, die ihn gewiss nicht interessierten: Umberto Eco und Co. Die wegwerfende Intonation, mit der er "Mit-tel-alterr" aussprach, haben wohl die meisten im Ohr. Ich stammelte etwas Postmodernes und erhielt als Anerkennung ein Reclam-Heft mit Reich-Ranicki-Artikeln samt riesigem Autogramm.

Die nächste Begegnung fand kurz vor Weihnachten statt, die Probezeit lief gerade aus. Zu den Weihnachtsbuchempfehlungen hatte ich Eckhard Henscheid, "Erledigte Fälle", beigetragen - in einem Akt leiser Insubordination, denn darunter befand sich neben anderen Mediengrößen auch Reich-Ranicki, zwar keineswegs als einziger, aber er, der eine scharfe Wahrnehmung für Widerspruch besaß, hatte begriffen. Er verlangte vom damaligen Herausgeber Joachim Fest, der Hinweis auf Henscheid solle entfallen.

Fest zitierte trocken das Gesetz: "Zensur findet nicht statt", und Henscheid wurde den Lesern der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für den Gabentisch empfohlen. Die damit markierte Meinungsdifferenz haben wir nie mehr ausgeräumt. Er fand unbedeutend, was ich verehrte: Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Rudolf Borchardt. Ich teilte die meisten seiner Vorlieben nicht, abgesehen vom Selbstverständlichen, Thomas Mann, Goethe.

Trotzdem habe ich seine Entschiedenheit gerade in manchen redaktionellen Zusammenhängen bald sehr geschätzt. Damals, vor 1989, wurde mit zäher Unversöhnlichkeit der "Historikerstreit" um Thesen von Ernst Nolte ausgetragen. Die FAZ hatte sich unter Joachim Fest in einer Wagenburg des moralischen Anti-Opportunismus verschanzt, im Namen der Meinungsfreiheit.

Übelnehmen, Rechthaberei, das war etwas für Professoren

Gekämpft wurde nicht für Nolte, sondern angeblich nur für dessen Freiheit zu fragen, was er fragen wollte. Es war das, was Golo Mann eine "blöde Geschichte" genannt hätte, vor allem: weitgehend überflüssig.

Unvergesslich, wie Reich-Ranicki, der damals andere, persönlichere Gründe hatte, Fest zu grollen (es ging um eine Verlängerung vor dem Ruhestand, die ihm verweigert wurde), während der einzigen Feuilleton-Konferenz, bei der ich ihn überhaupt erlebte, einen Text von Nolte zerpflückte: stilistisch, logisch, am Ende erst moralisch. Fest wurde bei solchen Gelegenheiten fahl wie von Mehl überpudert, behielt aber die Fassung. Reich-Ranicki tobte, zog erst zum Schluss seine entscheidende Karte: Diesen ganzen Unsinn - bitte in seiner Intonation! - hätte man von ihm aus gern immer wieder drucken können, wenn, ja wenn, nur einmal ein Gegenartikel dazu erschienen wäre, und zwar nicht anderswo, sondern im eigenen Blatt.

Damit war das Thema der Meinungsfreiheit von der allgemeinen Ebene der Medienschelte auf den Punkt zurückgebracht, wo sie zu einer Angelegenheit der versammelten Kollegen wurde. Zensur fand nicht statt, auch damals nicht - bald brachten die jüngeren Redakteure Nolte-kritische Artikel in Serie -, aber das war auch nicht Reich-Ranickis Punkt. Als brillanter Handwerker im Feuilleton erinnerte er daran, dass man auch riskante Debatten führen kann, wenn man sie von Anfang an ganz an sich zieht, und es nicht der Konkurrenz überlässt, das Naheliegende vorzubringen.

Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki
:Vom Verfolgten zur Literatur-Instanz

Als jüdischer Junge in Nazi-Deutschland flüchtete er sich in die Literatur, er überlebte das Warschauer Ghetto. In der Bundesrepublik wurde Marcel Reich-Ranicki zum gefürchtetsten aller Kritiker. Nun ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. Stationen seines Lebens.

Von Friederike Stahl

Marcel Reich-Ranicki war ein Machtmensch, ein Stratege im Literaturkampf. Dazu gehörte: direkt sein, bisweilen brutal, vor allem aber schneller als die anderen. Übelnehmen, Rechthaberei, das war etwas für Professoren. Öffentlichkeit, Presse, lebt nicht von Autorität, sondern von Deutlichkeit. Bis heute hilft bei jeder Debatte zur Klärung die Frage: Wie hätte sich Reich-Ranicki dazu verhalten? Er hätte mit gleichem Erfolg ein ausgezeichneter politischer Kommentator werden können.

© SZ vom 19.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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