Marcel Prousts 100. Todestag:Proust auf dem Balkan

Marcel Prousts 100. Todestag: "Als jüdisch sah Proust sich nicht. Ein Nicht-Jude wollte er allerdings auch nicht sein", schreibt Andreas Isenschmid. Am 18. November 1922 starb Marcel Proust in Paris.

"Als jüdisch sah Proust sich nicht. Ein Nicht-Jude wollte er allerdings auch nicht sein", schreibt Andreas Isenschmid. Am 18. November 1922 starb Marcel Proust in Paris.

(Foto: dpa)

Nie weiß man genug über ihn: Beiträge von Nachfahren und Zeitgenossen.

Von Lothar Müller

Als Marcel Proust am 18. November 1922, einem Samstag, in seiner Wohnung in der Rue Hamelin gestorben war, verbreitete sich die Todesnachricht unter seinen Freunden und Bekannten schnell. Die Maler Paul Helleu und André Dunoyer de Segonzac fertigten Porträtzeichnungen am Totenbett an, Man Ray kam mit der Kamera in die Rue Hamelin. Der Figaro brachte auf der ersten Seite der Sonntagsausgabe eine längere Meldung. Jacques Rivière, Lektor bei Gallimard und Chefredakteur der Zeitschrift Nouvelle Revue Francaise, brachte schon Anfang 1923 eine Sondernummer "Hommage à Marcel Proust. 1871-1922" heraus. Unter den Beiträgern waren Maurice Barrès, Joseph Conrad, Ernst Robert Curtius, Philippe Soupault, Paul Valéry und viele andere. Im "Schreibheft. Zeitschrift für Literatur" sind nun in deutscher Erstübersetzung die Texte von Jean Cocteau, Valery Larbaud und Paul Morand aus dieser Sondernummer erschienen.

Larbaud blickt auf die Zeit zurück, als Proust in den Literatenkreisen von Paris vor allem der Übersetzer John Ruskins war, und schlägt den Bogen zum Autor der "Recherche", der bei seinem Tod alle widerlegt hat, die dem Gemeinplatz anhängen, diese Epoche sei "keine große Epoche der Literatur". Paul Morand, der gern preziöse Pointen produzierte, schrieb: "Was mich am stärksten frappierte, als ich Proust kennenlernte, war die Begegnung mit jemandem, der so früh zu leben aufgehört hatte." Jean Cocteau verteidigte die Frivolität und das Interesse Prousts am mondänen Leben nicht zuletzt in eigener Sache. In seinem Porträt der Stimme Prousts aber trifft er eine Dimension des Werks: "Es fällt mir schwer, sein Werk zu lesen statt es zu hören." Cocteaus Proust kann lachen: "Marcel Proust liebte das Lachen. Er schwamm darin wie im Entwicklerbad." Jürgen Ritte hat die Texte nicht nur übersetzt, sondern mit biografischen Skizzen der Autoren und einer Nachbemerkung versehen. Sie erwägt den Gedanken, in den Passagen über das Sterben des (fiktiven) Schriftstellers Bergotte in seinem großen Roman habe sich Proust selbst den schönsten Nachruf geschrieben.

Marcel Prousts 100. Todestag: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 99. Rigodon, Essen 2022. 180 Seiten, 15 Euro.

Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 99. Rigodon, Essen 2022. 180 Seiten, 15 Euro.

(Foto: Schreibheft/SZ)

"Bergottes Witwe" heißt die Proust-Hommage des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić , die das Schreibheft den Reminiszenzen der Zeitgenossen an die Seite stellt. Ćosić, inzwischen neunzig Jahre alt, hat in jungen Jahren Prousts "Recherche" gelesen. Die 1994 skizzierte Idee zu "Bergottes Witwe" hat er im Jahr 2021 realisiert. Proust hat Pastiches zu Balzac, Flaubert und anderen Autoren verfasst, Virtuosenstücke ironiegetränkter Stilmimikry. Ćosić macht es anders. Er holt Figuren und Handlungselemente aus Prousts Romanzyklus in sein eigenes Werk, taucht sie ein in den Stil der Burleske. Aus Paris wird eine Kleinstadt an der Donau, aus den aristokratischen Guermantes eine reiche Metzgersfamilie, aus Swann ein etwas wunderlicher Herr Tatalović, aus Odette eine Maniküre-Spezialistin. Sie alle steigen aus der Erinnerung des Erzählers an seine Kindheit auf, in der ihm der Prokurist der Firma Ševčik & Co. eine literarische Karriere prophezeite.

Die Figuren des Miniromans leben nicht von den Proust-Bezügen, die Alida Bremer in einer Nachbemerkung erläutert, sondern von ihrer Verwurzelung in ihrem eigenen Kosmos, in den derben Alltagsgesprächen, die so unablässig rauschen wie bei Proust die Salonkonversation, ob es um technische Neuerungen geht, die Zeitgeschichte oder den Tratsch über sexuelle Orientierungen. Das Ganze ist in der Zwischenkriegszeit angesiedelt, öffnet sich aber auf den Zweiten Weltkrieg hin, auf die Okkupation durch die Deutschen. Anders als der antisemitisch ausgegrenzte Swann bei Proust stirbt der jüdische Herr Tatalović nicht an einer auszehrenden Krankheit, sondern wird ermordet. Der von Mirjana und Klaus Wittmann ins Deutsche übersetzte schmale Roman ist das Musterbeispiel einer eigenständigen Hommage.

Marcel Prousts 100. Todestag: Luzius Keller: Das Marcel Proust Alphabet. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 976 Seiten, 68 Euro.

Luzius Keller: Das Marcel Proust Alphabet. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 976 Seiten, 68 Euro.

(Foto: Friedenauer Presse/SZ)

Nach dem konzisen, klug komponierten "Proust-ABC" der Romanistin Ulrike Sprenger, das 2021 eine erweiterte Neuausgabe erlebte, hat nun Luzius Keller, der Herausgeber der Frankfurter Proust-Ausgabe, ein voluminöses "Marcel Proust Alphabet" herausgebracht. Es ähnelt der "Marcel Proust Enzyklopädie" von 2009, an deren deutscher Ausgabe Keller nicht nur als Herausgeber, sondern zugleich als Autor oder Co-Autor von weit mehr als 200 Einträgen beteiligt war. In das neue Werk hat er viele dieser - und einiger Beiträge anderer Autoren - aus der Enzyklopädie übernommen, die als "Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung" gelesen werden wollte.

Diesen Charakter hat auch das "Alphabet", das eine Fülle von Personen aus Prousts Leben, die Figuren des Werks umfasst, dieses Werk über die "Recherche" hinaus in allen Facetten erschließt, den Weißdorn wie die Gelehrsamkeit, die technischen Neuerungen der Epoche wie die "Geschlechtsverschiebungen" kommentiert. Angesichts der Fülle fällt freilich auf, dass zwar Holland und die Normandie, nicht aber Algerien und Ägypten einen Eintrag erhalten, dem Schriftsteller Bergotte nicht der General Boulanger folgt. Der Konversation und dem Konzert geht hier nicht der Kolonialismus der Dritten Republik voraus, der summarische Eintrag "Geld" kann die Abwesenheit der "Aktien" und der "Börse" so wenig kompensieren wie der knappe Eintrag "Militärwesen" die Abwesenheit eines Eintrags "Erster Weltkrieg" als Gegenüber zur ausführlich dargestellten "Dreyfus-Affäre".

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