Süddeutsche Zeitung

Marcel Proust:Schmerzliches Zubettgehen

In Paris sind frühe Entwürfe von Prousts großem Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" aufgetaucht.

Von Joseph Hanimann

Die Feindseligkeit des Schlafzimmers gegenüber dem Schlaflosen im Haus der Großtante in Combray, die beängstigende Kürze des Gutenachtkusses von Mama, die aus der Ferne beobachtete grazile Wendigkeit junger Mädchen am sommerlichen Meeresstrand sind bekannte Motive aus Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Neben vielen andere Motiven treiben sie im Strudel der vollgeschriebenen Manuskriptseiten, die das langwierige Entstehen des großen Romanzyklus bezeugen.

Viele Entwurfsskizzen sind wohl verloren. Von einem Konvolut aus dem Jahr 1908 war aber zumindest die Existenz bekannt. Der Verleger Bernard de Fallois, dem Prousts Nichte Suzy Mante-Proust ihren Fundus zur Sichtung überlassen hatte, publizierte 1952 daraus das frühe Romantorso "Jean Santeuil" und zwei Jahre später die Textsammlung "Gegen Sainte-Beuve". Im Vorwort dazu erwähnte de Fallois ein Ensemble von 75 großformatigen Blättern, die eine Art Urfassung von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" darstellten.

Dann war aber von ihnen nicht mehr die Rede, und es begann das große Rätseln über deren Verbleib, ja über deren Realität. Bis sie nach de Fallois Tod 2018 in seinem Nachlass wieder auftauchten. Unter dem Titel "Les soixante-quinze Feuillets" ist dieses wichtige Zeugnis aus der frühen Entstehungsphase der "Recherche" zusammen mit anderen unbekannten Manuskripten, herausgegeben von Nathalie Mauriac Dyer, bei Gallimard nun veröffentlicht worden.

Schon die frühen Skizzen enthalten Varianten der bekannten Motive

Seit dem 1899 abgebrochenen Romanversuch "Jean Santeuil" hatte der gut dreißigjährige Proust die Idee eines Romans offenbar zunächst aufgegeben und nach dem Tod seiner Mutter 1905 überdies eine schwere Krise durchlebt. Die nun aufgetauchten Blätter zeigen, wie hartnäckig jedoch die Inspiration zum Jahrhundertwerk aus den immer selben Quellen der frühen Kindheitserinnerung floss.

Die Skizzen zu dem für den Autor selbst damals noch undurchschaubaren Projekt enthalten schon in jenem Frühstadium Varianten der bekannten Motive. Landaufenthalt in der Familie, Spaziergänge in die beiden Richtungen, die noch nicht "Swann" und "Guermantes", sondern Meséglise und "Villebon" heißen, Strandszenen am Meer, Streifzüge durch Venedig sind die Themenpole dieser ungeordneten Entwürfe.

Das distanzierte "Er" aus dem "Jean Santeuil" ist da zum Erzähler-Ich geworden. Die vornehme Figur des späteren Charles Swann lässt sich aber erst aus verschiedenen Personen erahnen. Das Familienhaus in Combray existiert in den "75 Blättern" noch nicht, die Ereignisse des schmerzlichen Zubettgehens scheinen sich im Haus von Prousts Großonkel Louis, alias Lazard Baruch Weil, in der Pariser Vorstadt Auteuil abzuspielen, in dem der Schriftsteller geboren wurde.

Faszinierend ist es zu verfolgen, wie präsent die autobiografischen Einzelheiten in den frühen Skizzen waren, um dann allmählich ins Fiktionale aufzugehen. Prousts Großmutter Adèle Berncastell tritt mehrmals mit ihrem wahren Vornamen auf und selbst seine Mutter, von der im Roman nur noch als "Maman" die Rede sein wird, trägt hier stellenweise noch ihren wirklichen Namen Jeanne.

Wie in einem Kombinationsspiel werden Ereignisse und Bekannte verschmolzen

Auch diese unmittelbare Erinnerungsliteratur hat der sich vorantastende Autor dann aber zunächst wieder liegen gelassen, um nebst einigen Zeitungsaufsätzen die - auf den gleichen Papierbögen niedergeschriebenen - Texte "Gegen Sainte-Beuve" in Angriff zu nehmen. Diese angebliche Auseinandersetzung mit dem berühmtesten Literaturkritiker des französischen 19. Jahrhunderts geriet ihm ihrerseits aber zur Materialsammlung für den künftigen Roman. Das Unternehmen war in jener Zeit um 1909 endlich in Gang gekommen und sollte fortan bis zum Tod des Autors 1922 zum berühmt gewordenen Zyklus anschwellen.

Wie in einem Kombinationsspiel wurden Familienangehörige, Bekanntschaften und Ereignisse aus diesen frühen Entwürfen im Lauf seiner Entstehung gegeneinander versetzt und ineinander verschmolzen. Die paradigmatische Scheidung der geografischen, gesellschaftlichen und geistigen Welt in eine aristokratisch freie und eine bürgerlich rechnende Seite ist aber von Anfang an da. Er sei verblüfft gewesen, schreibt der Erzähler auf Blatt 27 der Entwürfe, vom Chauffeur zu erfahren, dass man auf der Straße von Chartres nach Nogent-le-Rotrou nur zwei- oder dreimal nach links abbiegen müsse, um zum Schloss Villebon - dem späteren Guermantes - zu gelangen. "Für mich bedeutete das so viel, als würde man sagen, dass man über einen bestimmten Weg und dann einen zweiten ins Land der Träume gelange."

Es waren meistens peinvolle Träume, die den hochsensiblen, beinah krankhaft nach Glück lechzenden kleinen Helden heimsuchten. Die Erkenntnis, dass es Schleichwege auch zwischen Traum, Erinnerung und Wirklichkeit geben muss, schlummert in diesen frühen Romanskizzen noch unerkannt, denn der diskrete Wegweiser eines in den Tee getunkten Stücks Madeleine oder Zwieback ist noch nicht da. Die Motive der "75 Feuillets" treiben zusammenhanglos im angehäuften Material und schieben manchmal seltsam unvermittelte Fremdelemente neben sich her, wenn etwa das "wunderbar schwarze aufgelöste Haar" der nachts im Flur abgepassten Mutter dem Knaben wie das Ranken von Gewächs um alte Ruinen vorkommt und der Erzähler plötzlich auch die Mutter selbst in der Erinnerung auf dem Totenbett liegen sieht. All das verlangte nach aufwendiger kompositorischer Vermittlung.

Eine große Lücke für die Nachverfolgung dieses Prozesses ist mit dem Wiederauftauchen der verschollenen Manuskriptblätter jetzt geschlossen. Der Stapel ist dem Proust-Fonds in der französischen Nationalbibliothek einverleibt worden und wird demnächst als Faksimile in deren digitalem Angebot www.gallica.fr einsehbar sein. Nicht nur in seinem Inhalt, sondern auch in seiner Genese offenbart Prousts Romanwerk immer neue Aspekte.

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