Manifest von Breivik im Theater:Bühne frei für den Massenmörder

Fragwürdiger Sieg für die "Freiheit der Kunst": Der dänische Dramaturg Christian Lollike bringt das Manifest von Anders Behring Breivik als Monolog auf die Bühne. Es soll angeblich hell werden in den Köpfen des Publikums, doch in Wahrheit will hier einer die Sensationslust befriedigen.

Thomas Steinfeld

Als der dänische Dramatiker, Regisseur und Theaterchef Christian Lollike im Januar bekanntgab, er werde 2083. A European Declaration of Independence, das Manifest des norwegischen Rassisten und selbsterklärten Tempelritters Anders Behring Breivik, in diesem Sommer szenisch aufführen, war die Empörung in den skandinavischen Ländern groß. Es sei zu früh für eine künstlerische Bearbeitung der Ereignisse, das Theater suche den Skandal, weil es Aufmerksamkeit wolle, und es mache sich zum Sprachrohr eines Massenmörders, lauteten die Vorwürfe.

Ein Jahr nach dem Massaker in Norwegen

Anders Breivik während seines Prozesses in Oslo. Der Dramaturg Christian Lollike wird tun, was das Gericht nicht tun sollte: Er wird einem Massenmörder die Bühne für dessen Anliegen zur Verfügung stellen.

(Foto: dapd)

Die Angehörigen der Toten begehrten auf. Sie hatten sich gerade erst vergeblich dagegen gewehrt, dass das Gericht dem Attentäter die Gelegenheit zur Selbstrechtfertigung geben musste. Das dänische Parlament beschäftigte sich mit dem Vorhaben, Pia Kjaersgaard, die Vorsitzende der rechtspopulistischen "Dänischen Volkspartei", riet empört ab.

Am Ende obsiegte die "Freiheit der Kunst". Die Premiere wird am 11. Oktober dieses Jahres im CaféTeater, einer kleinen Bühne in der Mitte Kopenhagens, stattfinden. Danach wird das Stück an Dramatikkens hus, eine staatlich finanzierte, experimentelle Bühne in Oslo, und ins dänische Åhus gehen.

Einen Monolog hat Christian Lollike angekündigt, auf der Grundlage des Materials, das in "2083" enthalten ist, vielleicht umgeben von anderen Stimmen, "um zu beleuchten, ob er ein Einzelgänger ist oder ein Ausdruck von Tendenzen innerhalb der radikalen Rechten." Ihn treibe also, sagt er, dieselbe Frage um, die seit dem 22. Juli 2011, dem Tag des Verbrechens, nicht nur die norwegische Justiz und Politik, sondern die Öffentlichkeit der halben Welt beschäftigt.

Christian Lollike ist ein geschickter Mann. Denn er wird die Aufmerksamkeit bekommen, die jeder erhält, der diesen Massenmord zum Stoff einer öffentlichen Vergegenwärtigung macht. Er wird die Neugier des Publikums und das Verlangen nach Sensation bedienen. Er wird tun, was das Gericht nicht tun sollte: er wird einem Massenmörder die Bühne für dessen Anliegen zur Verfügung stellen. Aber Lollike verbindet es mit dem Anspruch auf Aufklärung, ahnend oder zumindest hoffend, dass ihm darin keiner widersprechen wird.

Die nächste Frage wird nicht gestellt

Worin diese Aufklärung denn bestehen soll, wäre allerdings die nächste Frage. Aber sie wird nicht gestellt, weder von den Angehörigen der Toten, noch von der Politik, noch von den skandinavischen Medien. Allzu selbstverständlich ist offenbar, was der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom die moderne "Schule des Ressentiments" nennt: die im Grunde kunstfeindliche Rechtfertigung von Kunst durch die bloße Behauptung, sie erfülle einen gesellschaftlichen Nutzen, indem sie die Beschädigung von Menschen auf die Bühne bringe.

Gewiss, dort kann man sie dann angucken. Oder man kann sich das Programm eines Massenmords anhören. Aber wozu dient das Licht, das auf diesen Gegenstand geworfen wird? Und was hilft es, wenn - wie es Christian Lollike formuliert - eine offene Frage "beleuchtet" wird? Wird es dann heller in den Köpfen des Publikums?

Allenfalls Kunststücke, nicht aber Kunstwerke

Vor zweihundert Jahren erklärte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Wiederholung des Bestehenden sei zwar ein wesentliches Mittel der Kunst, könne aber nicht ihren Zweck bilden. Denn nicht nur, dass die nachahmende Kunst damit das "Ansehen eines Wurms" erhalte, der es unternehme, "einem Elefanten nachzukriechen." Vielmehr bringe die schlichte Wiederholung allenfalls Kunststücke hervor, nicht aber Kunstwerke.

Auch für die Belehrung, wenn sie den höchsten Zweck der Kunst ausmachen solle - und im "Beleuchten" verbirgt sich ein pädagogischer Anspruch -, hatte Hegel nicht viel übrig: "Das Schiefe liegt hier darin, dass sich das Kunstwerk sodann auf ein anderes beziehen soll, das als das Wesentliche hingestellt ist, so dass nun das Kunstwerk nur als nützliches Werkzeug Gültigkeit haben würde."

Es ist, als müsste diese Diskussion jetzt erneut geführt werden. Es gibt ein zeitgenössisches Theater, das meint, die Gegenstände verloren und das "Repräsentationstheater" überwunden zu haben. Diesen spielerischen Verwandlungen, diesen Komödien und Trauerspielen eines erwachenden bürgerlichen Selbstbewusstseins sollen ganz andere Konflikte gegenüberstehen, die nicht durch "Repräsentation", sondern durch schiere Gegenwart zu behandeln seien.

Im Unterschied zur dramatischen Tradition ist dieses zeitgenössische Theater bereit, auf die Fiktion, auf die Szene und ihre Figuren zu verzichten - zugunsten einer umstandslosen Wiederholung der Dinge, wie sie ihm erscheinen. Deswegen will Christian Lollike das Manifest als "O-Ton" behandeln. Eben so, wie die bildende Kunst mit einem "Ready-Made" umgeht, einem alltäglichen Ding, das sie frei und aus eigener Vollmacht zum Kunstwerk erklärt. Er kann das Dokument aber nicht zitieren, schon gar nicht in Gestalt eines Monologs, ohne den Massenmörder zum Theaterautor zu machen. Dennoch erhebt er einen nicht minder hohen Anspruch auf Aufklärung als das klassische Theater.

"Hat nicht das Theater", lautet die rhetorische Frage, die Christian Lollike jüngst in einem Interview mit der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet stellte, "nicht wie andere seriöse Medien eine Pflicht zu untersuchen, warum diese Tragödie stattfinden konnte? Liegt es nicht im Interesse aller, dass wir klüger werden und damit die Möglichkeit bekommen zu reagieren? Das Theater ist immer noch ein kollektiver Raum. Ist es also besser, dass jeder mit der Zeitung in der Hand dasitzt und die sensationellen Schlagzeilen liest?"

Einmal abgesehen davon, dass es nicht nur von beträchtlicher Dreistigkeit, sondern auch von einiger Ignoranz zeugt, das Theater umstandslos zu den "seriösen Medien" zu rechnen, den Massenmord von Utöya zu einer theatralischen Form - "Tragödie" - zu erklären, das Lesen einer Zeitung auf die Kenntnisnahme von Schlagzeilen zu reduzieren und das eigene Theater dem Gemeininteresse zuzuschlagen.

Fiebrige Einsichtnahme in ein ungeheures Leben

Entscheidend ist in dieser programmatischen Erklärung die Selbstverständlichkeit, mit der die öffentliche Darbietung eines bekannten, im Internet jederzeit einsehbaren Textes mit der Vermehrung von "Klugheit" gleichgesetzt wird. Worin soll, worin kann die Belehrung bestehen, wenn ein Schauspieler Auszüge aus dem monströsen Konvolut vorträgt, mit welchen verfremdenden Mitteln auch immer?

Nein, das "Klüger-werden", das Christian Lollike als Wirkung seiner Inszenierung verspricht, muss von anderer Beschaffenheit sein als die reflexive Distanz, die dem Urteilsvermögen innewohnt. Das monologische Vortragen des Manifests kann nur auf das Entgegengesetzte zielen: auf die Herstellung von Unmittelbarkeit.

Als Zeugen sollen Schauspieler und Publikum diesem Text begegnen und so Anteil haben an einer monströsen Wahrheit, an einem furchtbaren Schrecken. Und wenn der Schock, der mit dieser Inszenierung angekündigt ist, zum "Klüger-werden" führen soll, so muss diesem angeblichen Gewinn an Einsicht eine Vorstellung von Wahrheit zugrunde liegen, die wenig mit Reflexion, um so mehr aber mit einer fiebrigen Einsichtnahme in ein ebenso fremdes wie ungeheures Leben zu tun hat.

Der "O-Ton" ist das Höchste an Leibhaftigkeit, was man außerhalb von Gericht und Gefängnis von Anders Behring Breivik haben kann. Dass von dieser schillernden Monstrosität ein dunkler Ganz übergeht auch auf das Theater. Darum geht es. Und der Rest des Gedankens ist so plausibel wie der Einfall, ein pornografisches Bild für eine Lehrstunde in Anatomie zu halten. Theater ist, wenn das Theater sich Stoffe aneignet. Nicht, wenn es sich ihnen unterwirft.

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