Süddeutsche Zeitung

Malerei:Der Maler der modernen Stadt

Als die Pariser das Flanieren erfanden: In Berlin ist die großartige Straßenszene von Gustave Caillebotte ausgestellt.

Von Kia Vahland

Ein wenig sehnsüchtig kann werden, wer vom wiederaufgerichteten Berliner Schloss zur Alten Nationalgalerie schlendert, um dort Gustave Caillebottes aus Chicago angereiste "Straße in Paris, Regenwetter" zu betrachten. Als das Großformat im Jahr 1877 entstand, hatte Baron Haussmann die Pariser Innenstadt gerade neu gestaltet, mit radikalen, urbanistisch konsequenten Maßnahmen. Die Straßen wurden breit, die Häuser hoch, aber nicht zu hoch. Nicht einer nur halb verstandenen Vergangenheit fühlte das Paris des späten 19. Jahrhundert sich verpflichtet, sondern einer als luftig und dynamisch imaginierten Zukunft.

Die freilich war noch nicht eingetreten, was den dann doch leicht anarchischen Charme des Bildes ausmacht. Die Passanten, allesamt gut gekleidete Großbürger, schlendern mal neugierig, mal selbstvergessen kreuz und quer über die sauber gepflasterten Straßen. Ihnen gehört der weite Platz, in den Rue de Turin, Rue de Moscou, Rue Capeyron münden, eine vereinzelte Kutsche im Bild stört niemanden.

Die Passanten können sich bei Caillebotte entscheiden, ob sie sich neugierig wie das lebensgroße Paar vorne umschauen oder wie der Herr hinter ihnen gedankenverloren in ihrer eigenen Welt unter dem Schirm bleiben. Wie in einer Bibliothek, so sind auch in diesem öffentlichen Raum Rückzug und Anteilnahme gleichermaßen möglich, jeder ist bei sich und doch nicht allein. Das Licht spiegelt sich auf der Straße, die der Maler in schillerndem, pastosem Farbauftrag zeigt, während seine Menschen ganz klassisch mit glatten Gesichtern auf die städtische Bühne treten. Der Künstler mag mit den führenden Impressionisten befreundet sein, sie mäzenatisch unterstützen - er selbst wendet sich gerade in seiner Figurenauffassung vom noch vorherrschenden Realismus nicht ab. Lieber experimentiert er mit verschiedenen Fluchtpunkten, um das Panorama der Straßenzüge noch weiter aufzufächern, so dass der Stadtraum zu einer Art Tanzfläche wird, die Bewegung ermöglicht.

Der Unternehmererbe hat wie kein anderer den Beginn der industriellen Moderne erfasst

Die Straße sei die "Wohnung des Kollektivs", schreibt Walter Benjamin später, und dieses Kollektiv sei ein "ewig unruhiges, ewig bewegtes Wesen". Von dieser Vorstellung ist heute nur noch wenig zu spüren, der Platz, den Caillebotte malte, ist inzwischen zugeparkt und die Muße des Flaneurs, der auf Überraschungen wartet, geht dem gehetzten Stadtbewohner der Gegenwart auch eher ab.

Caillebottes Utopie vom gemeinschaftlich genutzten Stadtraum (die allerdings Bettler, spielende Kinder, Straßenverkäufer ausblendet) wird in der Schau begleitet von Skizzen, die zeigen, mit welch geometrischer Finesse der Maler vorging. Das steht in einem gewissen Kontrast zu den flirrenden Gemälden seiner Impressionistenfreunde, die auch ausgestellt sind. Ländliche Idyllen sind zu sehen, ab und an eine Kirche, vor allem aber blüht bei Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und den anderen das Glück des Stadtmenschen auf, Paris einmal zu entfliehen.

Kurator Ralph Gleis will damit Sammlungsgeschichte erzählen. Das Museum hat schon zu Kaiserzeiten impressionistische Malerei angekauft, trotz der Bedenken der Obrigkeit, die um die Ausstellungsflächen für altmodisch-akademische Gemälde fürchtete. So kam auch Édouard Manets großes Gemälde "Im Wintergarten" in das Haus, nun hängt es im Tausch mit dem Caillebotte-Werk als Leihgabe in Chicago. Dadurch fehlt das wichtigste impressionistische Gemälde der Alten Nationalgalerie, was dem sammlungshistorischen Fokus der Ausstellung nicht guttut.

Interessanter wäre es gewesen, dem Stadtbewohner Caillebotte mehr Raum zu gewähren. Wie kein anderer hat der Unternehmererbe Eisenbrücken (eine Ölstudie ist zu sehen), Balkongitter, den ganzen Beginn der industriellen, urbanen Moderne erfasst - übrigens ohne dabei die Rolle der Arbeit herunterzuspielen, die er in seinem anderen Hauptwerk, den "Parkettschleifern", feiert. Statt ihn wieder als Sammler der Impressionisten zu zelebrieren, wäre dies ein neuer Ansatz gewesen: Gustave Caillebottes Anregungen für eine wirklich moderne Stadt.

Gustave Caillebotte. Maler und Mäzen des Impressionismus, bis 15. September in der Alten Nationalgalerie Berlin.

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SZ vom 20.05.2019
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