Frank Auerbach hat endlich seine erste Ausstellung in Berlin. Für einen Künstler, der 1931 in dieser Stadt geboren wurde, könnte man das als recht spät bezeichnen. Für einen, der vorigen November im Alter von 93 mitten im ungebrochenen Tatendrang verstorben ist, auch schlicht als zu spät. Da Auerbach aber 1939 gerade noch rechtzeitig von seinen Eltern nach England in Sicherheit geschickt wurde, während sie selbst in Nazideutschland blieben und schließlich in Auschwitz ermordet wurden, ist es wiederum keine Selbstverständlichkeit, dass er seine Bilder überhaupt noch einmal in seiner Geburtsstadt ausstellen wollte. Man muss also nicht nur der Galerie Michael Werner dankbar sein, die diese Berliner Ausstellung jetzt auf die Beine gestellt hat, sondern auch dem verstorbenen Künstler, der am Ende doch noch Gefallen an der Idee gefunden hatte.
Bei Auerbachs Malerfreund Lucian Freud hatte es schließlich auch mehr als fünfzig Jahre gedauert, bis er bereit dazu war. Der neun Jahre ältere Freud, auch er in Berlin geboren, war schon 1933 mit seinen Eltern nach England emigriert, und eine Publikation seiner frühen Postkarten an die Eltern zeigt, wie lange er noch deutsch schrieb, dann denglisch, schließlich nur noch englisch. Einen leichten Akzent soll er bis ins Alter behalten haben, aber hören mochte er seine Muttersprache nach dem Krieg lieber nicht mehr, und als er sich schließlich doch dazu durchgerungen hatte, seine Bilder 1988 in einer großen Retrospektive in Berlin zu zeigen, wurde auch noch am helllichten Tag ein besonders wertvolles aus der Neuen Nationalgalerie gestohlen. Es war ein Porträt, das Freud von seinem Künstlerfreund Francis Bacon gemalt hatte. Nie wieder aufgetaucht. Er hat Fotos davon daraufhin aus Trauer nur noch schwarz-weiß abbilden lassen.
Auf einem Porträt von Lucian Freud sieht Auerbach in seinen Vierzigern wie jemand aus, der schon einiges hinter sich hat
Man muss sich auch diese Geschichte kurz wieder bewusst machen, wenn man jetzt auf dem Katalogtitel von Frank Auerbachs erster Ausstellung in Berlin kein Gemälde von Frank Auerbach selbst sieht – sondern eins von Lucian Freud. Auerbach ist auf dem Porträt von Freud im Wesentlichen eine gewaltige, hohe, wie von zig Impulsen durchzuckte Stirn unter langsam zurückweichenden Locken, eine Denkerstirn mit pulsierender Tatkraft. Auerbach war Mitte vierzig damals und sieht aus, als hätte er schon einiges hinter sich, dabei lag sein wirklicher Durchbruch zum Welterfolg mit dem Goldenem Löwen von Venedig damals noch rund zehn Jahre vor ihm.
Allein das wäre eigentlich schon ein Thema für sich: Die drei bedeutendsten Porträtmaler der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren eng miteinander befreundet und saßen sich gegenseitig Modell. Und es waren alles Engländer, einer von ihnen in Irland geboren und zwei in Deutschland, wobei die aber auch untereinander kaum deutsch gesprochen haben dürften, aus genannten Gründen. Auerbach war noch keine acht Jahre alt gewesen, als er nach Großbritannien kam, auf einem Kindertransport, den die Schriftstellerin Iris Origo ermöglicht hatte, und schaute offenbar schon deshalb eher nach vorn als zurück, er verwahrte sich bekanntlich sogar dagegen, in W. G. Sebalds Erzählungssammlung „Die Ausgewanderten“ vorzukommen.

Die Erinnerungen an Auerbachs Kindheit in Berlin-Wilmersdorf sind eher seinem Cousin, dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, zu danken, der mitunter sein Babysitter war und die Lebenswelt der Auerbachs, der Vater war Ingenieur, als assimiliertes jüdisches Bürgertum beschreibt. Ihr einstiges Wohnhaus in der Güntzelstraße liegt heute noch in einer begehrten Nachbarschaft. An der Stelle des Kinderzimmers von Freud am Tiergartenrand hingegen befindet sich jetzt der Holländer-Trakt der Gemäldegalerie.
So bedeutend seiner Malerei war, so teuer war sie in der Herstellung und so schwer verkäuflich war sie lange Zeit
Bemerkenswert ist, dass gleich beide Exil-Berliner nach Holocaust und Krieg, als in der Malerei des Westens ansonsten die Abstraktion dominierte, so strikt am Gegenständlichen festhielten, an der menschlichen Figur, am Porträt und gelegentlich am Stadtbild ihrer Londoner Lebensumgebung, was man allerdings auch als eine erweiterte Form des Porträts begreifen kann. Auerbach, von den Nazis früh zur Vollwaise gemacht, konnte allerdings lange davon nicht leben. Seine extrem dicken Farbschichtungen abstrahierten die Dinge auf ihre Art, machten aus Gemälden zudem eher Reliefs, aus Malerei eher Bildhauerarbeiten, waren oft mehrere Kilogramm schwer, kosteten dieses irren Materialeinsatzes wegen vergleichsweise viel in der Herstellung und verkauften sich bis in die Sechzigerjahre hinein nur schwer. Dabei hatte diese dicke, pastose Malweise eine eigene Tradition, über den von Auerbach geschätzten Walter Sickert, noch so ein Londoner aus Deutschland, bis runter zu Rembrandt. Und in der Berliner Ausstellung sind Reverenzen an beide zu sehen, darunter eine schwungvolle Studie, die Auerbach von Rembrandts „Gastmahl des Belsazar“ aus der National Gallery gemacht hat, einschließlich des schon bei Rembrandt etwas Comic-haften Erschreckens der Hauptfigur über das Menetekel an der Wand.
Es sind überhaupt erstaunlich viele und für die verschiedenen Karrierephasen Auerbachs repräsentative Bilder zusammengekommen in dieser Ausstellung. Und natürlich ist auf den ersten Blick ein bisschen sonderbar, dass es nun ausgerechnet eine private Kunstgalerie ist, die diese Museumsschau ausrichtet, und nicht eines der Berliner Museen. Aber die gediegenen Galerieräume, die sich gleich über zwei Charlottenburger Altbauwohnungen erstrecken, sind ein gut dimensioniertes Habitat für diese Art von Gemälden.
Galerist Werner, mittlerweile auch in seinen Achtzigern, erzählt, dass er zusammen mit Georg Baselitz schon früh regelrechte Pilgerfahrten nach London zu Auerbach unternommen habe. Die Beziehungen sind also alt, die Leihgeber hatten offensichtlich Vertrauen, und Catherine Lampert, die Kuratorin und Kunsthistorikerin, die auch Expertin für Freud und Bacon ist, taucht nicht nur immer wieder als Modell auf den Bildern hier auf. Sie lässt in ihrem Katalogbeitrag auch wissen, dass es wesentlich Auerbachs Sohn gewesen sei, der spät im Leben das Interesse des Vaters an seiner Geburtsstadt doch noch entfacht habe. Jake Auerbach sei als Filmemacher und Fan des 1. FC Union Berlin ohnehin dauernd in Berlin, habe die Sprache gelernt und aus Verärgerung über den Brexit schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.
Sein Vater wollte also doch endlich einmal seine Bilder da ausstellen, wo er als Frank Helmut Auerbach einst zur Welt gekommen war. Zuletzt war eine Einzelausstellung von ihm vor zehn Jahren in Bonn zu sehen. Wer weiß, vielleicht wäre der zuletzt notorisch zurückgezogene Mann sogar angereist. Gemalt hat er jedenfalls mit Disziplin und Eifer noch bis ins vergangene Jahr. Die späten Porträts sind sogar besonders schön, ungewohnt leicht, fast heiter. Das gilt im Speziellen für ein Selbstporträt in Acryl, das zu seinen letzten Arbeiten gehört, vielleicht sogar sein allerletztes war. Auerbach, bei seinen Modellen dafür berüchtigt, nach quälend langen Sitzungen all die aufgetragene Farbe wieder abzukratzen und neu zu beginnen, scheint hier wie ein japanischer Kalligraf lange konzentriert überlegt zu haben, bevor er zielsicher seine dicken, kühnen Linien dahin peitschte. Eine Karriere von mehr als sechs Jahrzehnten, ein Leben von mehr als neun. Und dann ging es anscheinend ganz schnell.
Bis 28.6. Galerie Michael Werner, Berlin. Katalog 40 Euro.