Regisseur Mahamat-Saleh Haroun:Afrikas großer Filmerzähler

Lesezeit: 4 min

Dank ihm feiert das afrikanische Kino internationale Erfolge: Mahamat-Saleh Haroun aus dem Tschad. (Foto: Dana Farzanehpour/Deja Vu Film)

Der Regisseur Mahamat-Saleh Haroun bringt "Lingui" ins Kino, ein bewegendes Drama weiblicher Solidarität im Tschad. Auf Mubi.com kann man mehr von ihm entdecken.

Von Philipp Stadelmaier

Schweres, goldenes Sonnenlicht liegt auf N'Djamena, der Hauptstadt des Tschad, auf dem Sand der Straßen und den Menschen, die ihren Beschäftigungen nachgehen. Im Hof ihres Hauses schlitzt Amina Autoreifen auf, um aus den Materialien Feuerroste zu flechten, die sie mit einer Freundin auf der Straße verkauft. Die Frauen hören Musik, verhandeln mit Käufern über Preise, lachen. Abends sitzt Amina wieder im Hof, bei ihrer fünfzehnjährigen Tochter Maria. Amina spürt, ihr fehlt etwas, doch das Mädchen will nicht sagen, was sie hat. Dann kommt die Wahrheit ans Licht: Die Tochter ist schwanger, die Schule hat sie rausgeworfen.

"Lingui", so heißt der neue Film von Mahamat-Saleh Haroun, dem großen Filmemacher aus dem Tschad und einem der wichtigsten Vertreter des afrikanischen Kinos überhaupt. Seine Filme wurden auf internationalen Festivals wie Venedig und Cannes ausgezeichnet, wo "Lingui" letztes Jahr im Wettbewerb lief. Die sonnendurchflutete Klarheit seines Erzählens bringt soziale Missstände zur Erscheinung - und afrikanische Geschichten, die bis heute im Weltkino stark unterrepräsentiert sind und dort hauptsächlich dank Harouns Schaffen einen Platz gefunden haben.

Die Tochter Maria will ihr Kind auf keinen Fall behalten, doch Abtreibungen verstoßen im Tschad gegen die Gesetze des Staates und der Religion. Amina (Achouackh Abakar Souleymane), die eine gute Muslima sein will, gerät außer sich, prügelt auf die Tochter (Rihane Khalil Alio) ein. Doch dann besinnt sie sich eines Besseren. Sie selbst war einst unehelich schwanger mit Maria, wurde von der Schule verwiesen und von ihrer Familie verstoßen. Nun will sie ihrer Tochter, die selbst über ihr Schicksal und ihren Körper bestimmen will, helfen.

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Das Wort "Lingui" bezeichnet eine Form von sozialer Solidarität und Verbundenheit zwischen Individuen, in diesem Fall zwischen Frauen, die sich einer patriarchalen Gesellschaft widersetzen. Diese wird hier repräsentiert durch den strengen Imam von Aminas Moschee, einen lüsternen Nachbarn sowie einen hilfsbereiten, aber wirkungslosen Arzt.

Ihnen gegenüber steht ein weibliches Netzwerk, das Amina und ihre Tochter bei der Suche nach der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs unterstützt: eine Krankenschwester, eine Frau, die im Geheimen Abtreibungen durchführt, und Aminas Schwester, deren Mann an der gemeinsamen Tochter eine Genitalbeschneidung vornehmen lassen will. Glücklicherweise kennt Amina eine Frau, die Beschneidungen nur vortäuscht, während die Schwester Amina finanziell unter die Arme greift.

Mahamat-Saleh Harouns Karriere beginnt mit einem langen Exil im Westen. In den Achtzigerjahren verlässt er während des Bürgerkrieges die ehemalige französische Kolonie und geht nach Frankreich, wo er im Journalismus tätig wird und Film studiert. 1999 später kehrt er in den Tschad zurück, für seinen ersten Spielfilm,"Bye Bye Africa" - der erste jemals im Tschad produzierte Spielfilm überhaupt. In dem autofiktionalen Werk spielt Haroun sich selbst: einen Filmemacher, der nach Jahren im Ausland in seine Heimat zurückkehrt, um einen Film zu machen.

Der Kampf um Würde in Afrika ist auch von Charlie Chaplin inspiriert

Auch in dem wunderbaren "Abouna" von 2002, der aktuell in Deutschland auf der Streamingplattform Mubi zu sehen ist, spielt das Kino eine zentrale Rolle. Zwei Jungs warten auf die Rückkehr ihres verschwundenen Vaters, den sie eines Nachmittags im Kino in einem Film zu entdecken glauben; um ihm näher zu sein, nehmen sie die Filmrolle mit nach Hause. Vor dem Kino hängen Plakate von Jarmusch-Filmen, deren tagträumerischen Rhythmus Haroun in "Abouna" übernimmt, aber auch von Charles Chaplin. Wie Chaplin porträtiert er auf warme und liebevolle Art Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft, ihre immer auch komischen Missgeschicke und vor allem ihre Kämpfe um Würde und Freiheit, die auch Mutter und Tochter in "Lingui" ausfechten müssen.

Besonders beeindruckend ist Harouns "Hissein Habré. Une tragédie tchadienne", der gerade ebenfalls auf Mubi läuft. Der Dokumentarfilm handelt von der Aufarbeitung der Traumata aus der Zeit der Gewaltherrschaft des Diktators Hissein Habré von 1982 bis 1990, vor dem der Regisseur damals nach Europa floh. Haroun lässt Überlebende und Opfer des verbrecherischen Präsidenten vor der Kamera erzählen, von ihrer Zeit im Gefängnis und Folter durch die Geheimpolizei.

Maria (Rihane Khalil Alio, links) will abtreiben. Ihre Mutter Amina (Achouackh Abakar Souleymane) möchte eine gute Muslima sein und kämpft doch für sie. (Foto: Deja Vu Film)

Vierzigtausend Menschen wurden damals ermordet. Der Film handelt vom Erinnern und von einem langen Kampf für Gerechtigkeit: Erst 2016 wird Habré zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Vor allem interessiert sich Haroun für das Zusammenleben von ehemaligen Opfern und ehemaligen Tätern, für die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) des Vergebens und des Heilens einer Gesellschaft.

Dank seiner Erfolge im Westen war Haroun zeitweilig Kulturminister seines Heimatlandes, gab den Job jedoch schnell wieder fürs Filmemachen auf. Wenn Lingui ein Band der Solidarität zwischen Individuen bedeutet, so scheint sich Haroun in ebendieser Art für den Tschad und seine Bevölkerung verantwortlich zu fühlen, indem er ihre Geschichten erzählt, von sozialer Gewalt und schweren politischen Krisen, aber auch von Hoffnung und Optimismus.

Am Ende von "Lingui" kehrt das Lachen der Frauen zurück, das nach den ersten Minuten aus dem Film verschwunden schien. Doch schon dazwischen gibt es hier keine Larmoyanz, nur Entschlossenheit und Schönheit. Die Welt strahlt in Grün, Geld und Ockergold, doch nichts davon ist dekorativ. Das intensive Licht und die Farben erzeugen eine hauchdünne, ätherische Hyperrealität, die sich wie ein durchsichtiger Schleier auf die Härten der sozialen Wirklichkeit legt, ohne sie zu verdecken.

Die Sanftheit und Zärtlichkeit des Films, die Nähe zwischen den Frauen, ihre Umarmungen und Sorge umeinander erinnern an das Kino von Berry Jenkins oder Claire Denis: an das Bewusstsein einer Liebe, die alle umgibt und die - unterdrückten - Körper nicht auf ihr Elend reduziert, sondern miteinander verbindet. Bei Mahamat-Saleh Haroun steht Lingui auch für die heilenden Kräfte des Kinos.

Lingui , Frankreich, Deutschland, Belgien, Tschad 2021. - Regie und Buch: Mahamat-Saleh Haroun. Kamera: Mathieu Giombini. Mit Achouackh Abakar Souleymane, Rihane Khalil Alio. DéjàVu Film, 87 Min. Kinostart: 14.4.2022.

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