Maghreb:Unter Zwang

Leïla Slimani hat im "Gespräch mit Frauen aus der arabischen Welt" ein Buch über ein Thema voller Widersprüche geschrieben: Das Sexleben der Araber. In Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Laetitia Coryn ist auch eine Graphic Novel zum Thema entstanden.

Von Reinhard Brembeck

Weißt du, ich weiß, worum es in deinem Buch geht", erklärt Jamila, "Du sprichst über Sexbesessene, nicht wahr? Du musst wissen, in Marokko gibt es viele davon." Leïla Slimani, vor 37 Jahren in Marokkos Hauptstadt Rabat geboren und derzeit die aufregendste Autorin der französischen Literatur, hätte diesen Satz nie von ihrer einstigen Kinderfrau erwartet. In Slimanis Vorstellung ist Jamila "sehr konservativ und verurteilt mich sicher insgeheim".

Jamila ist mit 50 noch ledig, sie lebt in Rabat und für sie sind Moral und islamische Religion wichtig. Slimani hingegen ging mit 17 zum Politikstudium nach Paris: "Ich rauche, ich trinke, ich gehe aus, wann ich will. Ich habe ebenso viele Freunde wie Freundinnen." Über Sex haben die beiden vor diesem Moment nie gesprochen.

Leïla Slimani hat schon in ihrem ersten, demnächst auf Deutsch erscheinenden Roman "Dans le jardin de l'ogre" ("Im Garten des Menschenfressers", 2014) den Sex ins Zentrum gerückt. Adèle, verheiratet mit einem in der Arbeit versinkenden Mediziner, ein Kind, Journalistin, stürzt sich in eine freudlose Affäre nach der anderen. Slimani, die als politische Journalistin gearbeitet hat, erzählt mit einer nüchtern knappen, unsentimentalen Sprache. Nie erklärt sie etwas, nie psychologisiert oder moralisiert sie. Slimani beobachtet, sie konstatiert. So entsteht ein schonungsloses Psychogramm der französischen Mittelschicht. Dieses Psychogramm hat sie in ihrem zweiten, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Chanson doux" ("Dann schlaf auch du") vertieft. Myriam vertraut dort ihre Kinder einem Kindermädchen an, das die beiden schließlich umbringt. Mühelos bringt Slimani Armut, geistige wie soziale Misere und Vereinsamung zusammen. So wird verständlich, wie ein aufopferungsvoller und kinderliebender Mensch zu solch einer Irrsinnstat fähig wird.

Mit dem "Menschenfresser"-Roman ging Slimani 2014 auf Lesereise durch Marokko, wo das Thema Sex auf ein riesiges Interesse stieß: "Für jeden, der in einer Gesellschaft lebt oder aufgewachsen ist, in der es keinerlei Freiheit gibt, seine Gefühle auszuleben, wird Sex unweigerlich zur Obsession, zur permanenten Zwangsvorstellung." Dass das Buch von einer maghrebinischen Autorin stammt, die keine orientalisch erotischen Fantasien à la Scheherazade schreibt, sondern sich die oft alles andere als erotische Realität des Sex vornimmt, ermunterte viele Frauen, Slimani die intimsten Details aus ihrem oft ebenfalls wenig glücklichen Sexleben zu erzählen.

Die Menschen vertreten alle Positionen, von liberal bis streng frauenfeindlich

Aus diesen Gesprächen hat Slimani wiederum zwei Bücher gemacht, die Gesprächsprotokolle "Sex und Lügen", sowie zusammen mit der Zeichnerin Laetitia Coryn die Graphic Novel "Hand aufs Herz". Im Lügen-Buch kommen Marokkanerinnen und ein auch ein paar Marokkaner zu Wort. Die Graphic Novel fasst die Geschichten geschickt in größeren Einheiten zusammen. Und Laetitia Coryn zeichnet bevorzugt in braunen Farbtönen ein Marokko abseits der Urlaubsprospekte, immer wieder ist Leïla Slimani selbst zu sehen.

Die in ausführlichen Statements sich selbst porträtierenden Menschen stammen aus den verschiedensten Schichten, sie vertreten die unterschiedlichsten Positionen zum Thema Sex, von westlich libertär bis streng frauenfeindlich. Slimani kommentiert die Erzählungen, stellt sie in den gesellschaftlichen Kontext. Dazu gehört, all das fällt ins Jahr 2015, Nabil Ayouchs heftig angefeindeter Film "Much Loved" über vier Prostituierte in Marrakesch, der Fall der 15-jährigen Amina Filali, die sich umbrachte, nachdem man sie gezwungen hatte, ihren Vergewaltiger zu heiraten. Es geht auch um den skandalisierten Auftritt von Jennifer Lopez beim Festival Mawazine, wo der Bassist Stefan Olsdal von der Gruppe Placebo mit einer durchgekreuzten 489 auf dem T-Shirt spielt, dieser Paragraf stellt in Marokko Homosexualität unter Strafe.

Vieles im Strafrecht richtet sich gegen Frauen, nicht nur der § 490, der außerehelichen Sex als Verbrechen einstuft. Aber, sagt die Menschenrechtlerin Khadija Ryadi: "Wir alle wissen, dass außereheliche sexuelle Beziehungen in Marokko gang und gäbe sind." Slimani führt aus, dass das Land mit seinen 35 Millionen Einwohnern "der weltweit fünftgrößte Konsument von Internet-Pornografie" ist. "Aber gleichzeitig wird pausenlos an Anstand und Tugend appelliert."

Ein junger Mann bringt das daraus resultierende männliche Standardverhalten auf die Formel: "Ich hab das Recht, sowohl ficken zu wollen als auch eine Jungfrau zu heiraten!" So krachig direkt und nah am Alltagsdeutsch steht es in der Graphic Novel, das "Lügenbuch" ist sprachlich etwas behäbiger, dezenter und schreibt "vögeln". Aber die Direktheit der Bildergeschichte gibt dem soziologisch ernsten Thema einen faszinierenden Kick.

Und Laetitia Coryn zeichnet in die nie schablonenhaften Gesichter der Menschen Erstaunen, Angst, Verblüffung, Ernst. Und viel Witz. Dass eine Fitna zwar Karotten, aber nicht Bananen zur Selbstbefriedigung zulässt, stimuliert Coryn zur Höchstform. Dass Frauen ohne Haartücher Probleme haben, ist klar: "Ohne Kopftuch kannst du sicher sein, dass du belästigt wirst."

Die Araber haben die Erotik erfunden, Arabisch ist die Sprache des Sex

"Wir haben die Erotik erfunden", erklärt Regisseur Nabil Ayouch mit Verweis aufs 15. Jahrhundert und hat dabei sicher den auch auf Deutsch erhältlichen Klassiker "Der duftende Garten" von Nafzâwî (erschienen bei C.H.Beck) im Sinn, den auch Slimani erwähnt. Das ist ein grandios erzählfreudiges Liebeshandbuch, das Salwa Al Neimis "Honigkuss" ermöglicht hat, vor zehn Jahren ein Welterfolg, weil es die weibliche Variante zu Nafzâwî ist: "Arabisch ist die Sprache des Sex."

Die in Paris lebende Al Neimi schrieb ihre als persönlichen Erfahrungsbericht getarnte Liebeskunst auf Arabisch, es ist in fast allen islamischen Ländern verboten, weil hier eine Araberin erstmals mit Hinweis auf die tolerante Tradition des Islam ein weibliches Recht auf sexuelle Selbstbestimmung formulierte.

Auch Leïla Slimani betont, wie freundlich sich der Islam einst Sex und Sinnlichkeit gegenüber verhielt. Die interessantesten Ausführungen stammen von der Theologin Asma Lamrabet. Die hat weder im Koran noch in den Aussprüchen des Propheten irgendetwas zum Hypethema Jungfräulichkeit entdeckt: "Die fixe Idee der Jungfräulichkeit, um das sich unsere Gesellschaften drehen, ist vor allem etwas typisch Mediterranes."

Lamrabet beklagt, dass der arabischen Kultur die Natürlichkeit und Redefreiheit abhandengekommen seien. Und: "Für den Islam ist sie (die Frau) zunächst ein freier, mit Verstand, Intelligenz und Vernunft begabter Mensch." "Die marokkanische Frau wird nicht unterworfen, sie sitzt nur in der Scheiße." Coryns Bild dazu zeigt eine Urlaubsidylle mit Meer, Moschee, Palmen. Dieser Zwiespalt durchzieht Slimanis soziologische Reportage.

Aber diese durch die arabische wie die französische Denktradition geprägte Aufklärerin gibt sich kämpferisch optimistisch: "Um die Sexualität zu befreien, vor allem die der Frauen, muss man zunächst die Worte befreien." Ihre beiden Bücher sind siamesische Zwillinge, wer kann, sollte beide lesen.

Um dann, fasziniert und schockiert, festzustellen, dass Slimani ja gar nicht über Marokko schreibt, sondern darüber, dass das (nicht nur in Marokko ungeklärte) Verhältnis zur Sexualität zutiefst den Lebenswert einer Gesellschaft bestimmt. Das hat Slimani auch im Menschenfresser- und im Kindsmord-Roman getan. Ihre Fähigkeit, ein soziologisches Thema zu transzendieren, weist Leïla Slimani als ganz große Schriftstellerin aus.

Leïla Slimani: Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der arabischen Welt. btb, München 2018. 205 Seiten. 12 Euro.

Leïla Slimani, Laetitia Coryn: Hand aufs Herz. Graphic Novel. Avant Verlag, Berlin 2018. 107 Seiten. 25 Euro.

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