Maggie Nelson: "Freiheit":Logik der Paranoia

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Das Idol der Queertheorie erzürnt nun nachfolgende Denkerinnen: Maggie Nelson. (Foto: Kirk McKoy/Los Angeles Times/Getty Images)

Maggie Nelson, eine der wichtigsten Stimmen der queeren Literatur und Theorie, eckt in woken Kreisen an. Was ist passiert?

Von Caspar Shaller

Seltsame Dinge geschehen im sogenannten Diskurs. Die amerikanische Autorin Maggie Nelson hat einen Essayband herausgegeben: "Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang". In vier Aufsätzen setzt sich Nelson mit Debatten zum Thema Kunst, Sex, Drogen und der Klimakrise auseinander. Auf den ersten Blick erscheinen vor allem die Kapitel über Kunst und Sex wie eine weitere Salve gegen die angeblich außer Kontrolle geratene Cancel Culture. Es geht um Vorwürfe der sexuellen Übergriffigkeit, um Kunstzensur, um verletzte Gefühle, die durch Bestrafung wieder gut gemacht werden sollen. Im Gegenzug plädiert Nelson für mehr Toleranz gegenüber komplexen und vielleicht verstörenden Ideen und Kunstwerken. Wir haben in den letzten Jahren viele solcher Einwürfe kennengelernt.

Doch hier beginnt die Verwirrung: Maggie Nelson eignet sich nicht wirklich als Stimme im Chor derjenigen, die vor dem Meinungsterror der "Woko Haram" warnen und das Loblied der angeblich toleranten Aufklärung singen. Denn Nelson gehört zu den wichtigsten Stimmen der feministischen und queeren Literatur und Theorie des vergangenen Jahrzehnts. In ihrem Roman "Die Argonauten" von 2015 beschrieb sie ihre Auseinandersetzung mit Psychoanalyse und Queer Theory, um ihre Beziehung und die Testosteron-Therapie ihres Partners gedanklich und emotional zu durchdringen. Damit begründete sie zusammen mit dem spanischen Queertheoretiker Paul Preciado das Genre der "Autotheorie", der literarische Gipfel des feministischen Diktums, wonach das Persönliche politisch sei.

In "Freiheit" findet sich noch immer viel Theorie, vom "auto" aber ist wenig übrig geblieben. Es ist, als hätte Nelson die Angst ergriffen. Sie wappnet sich mit Zitaten und Endnoten, als würde sie einen Schild bauen, der sie vor den Angriffen ihrer Kritikerinnen schützen soll. Auf manchen Seiten erwähnt sie bis zu zehn Denkerinnen, auf die sie sich bezieht. So wird Nelsons Werk zum ersten Mal vom Calvinismus erfasst, ohne den identitätspolitische Debatten kaum zu verstehen sind: Die fast theologisch anmutende Textexegese, um den überlegenen moralischen Standpunkt zu rechtfertigen. Das Bezaubernde an Nelsons bisherigen Büchern war ja genau, dass es nicht darum ging, wer Fred Motten oder Lauren Berlant korrekt gelesen hatte, sondern wie diese trockene Theorie helfen kann, tatsächliches Leben voller Blut, Schweiß und Vaginalsekreten zu verstehen und emotional zu bewältigen.

Leitmotiv ist Nelsons Plädoyer, Komplexität und Ambiguität auszuhalten

Die von Nelson in "Freiheit" bearbeiteten Beispiele und Fälle sind so zahlreich, dass ihre Aufzählung den Rahmen sprengen würde. Zu den wichtigsten Themen gehören Vorwürfe der sexuellen Übergriffigkeit gegen die Literaturwissenschaftlerin Avital Ronnel und den Comedian Aziz Anzari. Im "Kunstlied" setzt sie sich vertieft mit den Debatten um ein Gemälde einer weißen Malerin auseinander, das die aufgebahrte Leiche eines schwarzen Jungen zeigte und 2017 den Zorn von Aktivistinnen auf sich zog, die forderten, es zu zerstören.

Maggie Nelson: Freiheit - Vier Variationen über Zuwendung und Zwang. Hanser Berlin, 2022. 400 Seiten, 26 Euro. (Foto: N/A)

Leitmotiv ist dabei Nelsons Plädoyer, Komplexität und Ambiguität auszuhalten, statt sich in Verfolgungswahn und Bestrafungs- und Ausschlusslogik zu ergeben. Die Vielfalt sei bedroht von einer "homogenisierende Logik der Paranoia, die keine Mühe scheut, Unterschiede einzuebnen." Michel Foucaults Unterscheidung zwischen Befreiung (als einem momentanen Akt) und Praktiken der Freiheit (als etwas Andauerndem) bezeichnet sie dabei als Leitmotiv. Freiheit müsse in Aushandlungsprozessen ständig erneuert werden. Die "Ballade des sexuellen Optimismus" etwa handelt von sexueller Selbstbestimmung und Begehren. Sexuelle Befreiung werde immer den Makel in sich tragen, Menschen in Situationen zu bringen, in denen ihre Bedürfnisse im Widerspruch denen eines anderen liegen.

Doch Nelson verstrickt sich selbst in Widersprüche. Im letzten Teil "Blinde Passagiere" widmet sich Nelson der von Franco Berardi entlehnten These, Politik und Therapie würden im von ökologischer Katastrophe und sozialer Ungleichheit zerrütteten 21. Jahrhundert in eins fallen. Einerseits wehrt sich Nelson gegen "die Verwandlung weiterer Lebensbereiche in Bereiche der Fürsorge und Therapie", doch hat sie genau diesen Prozess (zumindest literarisch) vorgemacht. Sie zieht kritische Theorie dafür hinzu, Brüche und Beziehungen in ihrem Leben ausführlich nicht nur theoretisch und therapeutisch, sondern auch politisch zu durchdringen.

Es ist erstaunlich auf welche Verachtung "Freiheit" im angelsächsischen Raum stößt

Vielleicht lag es an dieser Unentschiedenheit, an den widersprüchlichen Signalen, die das Buch aussendet, dass es von der angelsächsischen Kritik zerrissen wurde. Doch es ist erstaunlich auf welche Ablehnung, ja Verachtung Nelsons Buch gestoßen ist. Hier beginnt der Diskurs wirklich seltsam zu werden: "Freiheit" sei abstrus, medioker, amorph, voller Plattitüden, bereits bei Veröffentlichung schlecht gealtert und vor allem: "tödlich langweilig," hieß es. Nelson habe keine Ideen, nur Meinungen, schrieb eine Kritikerin - ausgerechnet Andrea Long Chu, die man zu den intellektuellen Erbinnen Nelson zählen dürfte. Chu habe "die zweite Welle der Trans Studies" begründet, heißt es oft. "Freiheit" watschte Chu nun als langweilige Klage "noch einer Vertreterin der Generation X" ab, die sich über eine unterstellte "Gier nach öffentlicher Demütigung" echauffiere.

Womit hat Nelson die nachkommenden Generationen an Denkerinnen erzürnt? Aus "Freiheit" liest man stellenweise Entsetzen über die Moralisierung der Debatte, ein Entsetzen darüber, was man selbst losgetreten hat. Chu selbst wird im Buch kritisch beharkt. Ihre Unterscheidung zwischen "dem Wunsch zu bestrafen" und der Strafe an sich, die Chu in einem Essay über MeToo aufwarf, sei nicht so ethisch tragfähig, wie die jüngere Denkerin glaube, schreibt Nelson. An diesen Stellen entsteht ein etwas seltsamer Dialog zwischen den Positionen. Nelson kritisiert in ihrem Buch ein Internetessay, diese Kritik wird dann wiederum in einem anderen Internetessay auseinandergenommen, es ist eine diskursive Echokammer, die nur noch ermüdend wirkt, insbesondere, wenn man sie über den Atlantik hinweg aus der Ferne beobachtet.

Cornelius Reiber hat Maggie Nelsons dichten und komplexen Schreibstil zwar leichtfüßig ins Deutsche übersetzt. Aber man fragt sich, ob der amerikanische Kulturkampf wirklich so einfach nach Deutschland zu übertragen ist. Viele der erwähnten Beispiele werden einem hiesigen Publikum unbekannt sein, und von den angeblichen Kulturkämpfen auf Campusen sind unsere Feuilletons ja auch ohne Zutun amerikanischer Autorinnen voll genug. Wer soll dieses Buch hierzulande lesen? Ewig erboste Kolumnisten, sich ebenfalls im Kulturkampf wähnende Redakteure? Dafür ist Nelson selber zu queer, zu woke, zu "linksgrün versifft", wie man das in der Sprache von Goethe und Schiller sagt. Brauchen wir inmitten der eigenen Verwirrungen auch noch die ödipalen Abrechnungen aus den USA?

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