Märzmusik:Schrecklich schön

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"Migrants", die in Berlin uraufgeführte Fluchtmusik des griechischen Komponisten Georges Aperghis, möchte den auf der Flucht Ertrunkenen ein Gesicht geben. Es entsteht ein Klangraum der Ausweglosigkeit und Angst, der unvermittelt in die Ohren dringt.

Von Wolfgang Schreiber

Der Komponist Georges Aperghis bezweifelt die Chance seiner Musik, Entsetzen und Schmerz des realen Lebens musikalisch ausdrücken zu können. Für den Künstler sei die Gefahr groß, aus dem Leiden der Menschen einfach "Kunst zu machen", um "etwas Schönes" entstehen zu lassen. Das sei halt bequem. Der griechische Komponist, der in Paris lebt, hat ein konzertantes Schockdramolett mit dem Unheiltitel "Migrants" geschaffen - drei Sätze für zwei Frauenstimmen, Klavier, drei Schlagzeuger und Streicher mit Texten aus Joseph Conrads Buch "Herz der Finsternis" und Textfragmenten von akut geflüchteten Menschen. Aktueller als hier bei der Märzmusik, die sich rechtens "Festival für Zeitfragen" nennt, geht es nicht.

Das Besondere an dieser Uraufführung ist der Kontext, die musikalische Verknüpfung: Aperghis' gut halbstündiger Musik ging ein Werk des älteren Komponisten Leos Janacek voraus, der die Geschichte vom Verschwinden eines Menschen - gegen Ende des Ersten Weltkriegs aus einer Tageszeitung aufgegriffen - in dem Liedzyklus "Tagebuch eines Verschollenen" ausgebreitet hat. Nur, der zwischen Kunstlied und Kammeroper changierende Zyklus erklang hier nicht in der Originalgestalt für Tenor, Frauenstimme, Chor und Klavier, sondern erfuhr Weiterung, Steigerung durch eine Bearbeitung für Kammerorchester von Johannes Schöllhorn. Dieser weist dringlich darauf hin: Janacek bot mit seinem Tagebuch eines Verzweifelten, der seine bäuerliche Welt verließ, keineswegs eine romantische Liebesgeschichte, sondern die Ballade eines nomadischen Lebens, erschüttert in Seelenzuständen der Angst und Verlassenheit . . . Danach attacca, ohne Applaus und Pause, aufrüttelnd "Migrants" von Georges Aperghis.

Zwei Frauenstimmen sind statt des Tenors die Handelnden in Janaceks Tagebuch wie in Aperghis' "Migrants". Agata Zubels Sopran und der Mezzosopran von Christina Daletska schufen ein Maximum an raffiniertesten Sprachklängen, aufgeschichtet in der Atmosphäre symbolhafter Distanziertheit. Sie meisterten die Vielfältigkeit hektischer Diktion und sich überschlagender Emotion.

"Ich möchte nicht nur den ertrunkenen Körpern ein Gesicht geben, die an Europas Küsten angespült werden", schrieb Aperghis zu seiner Komposition, "sondern auch der großen Zahl der Lebenden, die ohne Identität durch Europa irren, ohne offiziell als lebendig anerkannt zu werden." Seine Musik ist Zeugnis, sie besteht aus unerhört harten musikalischen Gesten und Wanderungen im Klang, er selbst nennt das gern "imaginäres Theater" der Kammermusik. In Paris hatte er einst die Gruppe "L'Atelier Théatre et Musique" gegründet.

Es sind die schroffsten musikalischen Gesten, die selbst den geübten Hörer der Gegenwartsmusik überraschen. Es entsteht ein Klangraum der Ausweglosigkeit und Angst, der unvermittelt in die Ohren dringt. Was Aperghis den tiefen Streichern an brachialen, fetzenden Wendungen abverlangt, was er den Geigen an stranguliertem Ausdruck, Schrei oder Wimmern in höchsten Lagen abfordert, lässt schaudern, ohne dass die kaum zu verstehenden Texte vermisst würden. Das Ensemble Resonanz unter den vitalistisch schwingenden Armen Emilio Pomàricos schleudert all die Donner- und Splitterklänge mit präziser Gewalt heraus. Da gilt doch wohl, wie überhaupt in der Ästhetik der radikalen Moderne, Rilkes Erleuchtung von 1912, wonach das Schöne nichts sei "als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen".

© SZ vom 27.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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