Illustration:Grimms Märchen

Grimms Märchen

Der Fischer, dessen Frau erst reich, dann Kaiser, dann Papst werden will, angelt bei Schrat vor der Elbphilharmonie.

(Foto: Artist-freed; Henrik Schrat)

Der Künstler Henrik Schrat zeichnet das kollektive Unbewusste.

Von Kathleen Hildebrand

Man vergisst leicht, welch grausame Düsternis da im Urgrund deutscher Literatur liegt wie ein tiefer, dichter, schwarzer Wald: Menschen verhungern, Stiefmütter morden ihre Stiefkinder, Schwiegermütter werden ins Feuer geschoben und faule Mädchen mit Pech übergossen, das ihr Leben lang an ihnen kleben bleibt. Verbrechen und Strafe regieren die Welt von Grimms Märchen, und Erbarmen ist in ihnen seltener als Fische, die Wünsche erfüllen.

Der Berliner Künstler Henrik Schrat, der schon die Mitarbeiterkantine des Bundestags mit dem "Schlaraffenland" verziert hat, fasst dieses ganze gruselige Erbe nun in neue Bilder. In Bilder, die nichts zu tun haben mit den heiter disneyfizierten Darstellungen, an die man heute denkt, wenn man "Schneewittchen" hört und "Aschenputtel". Der erste Band seines auf fünf Bücher angelegten Projekts "Rodung Kreuzung Lichtung" ist gerade im Textem-Verlag erschienen, wunderbar gebunden mit Neonschnitt und Lesebändchen. Er heißt "Schneefall", Nora Gomringer hat dazu ein schön versponnenes Vorwort geschrieben.

Um die klar gesetzten Texte herum malt Schrat mit schwarzer Tusche Illustrationen, die direkt aus dem kollektiven Unterbewussten zu kommen scheinen. Und zwar aus dem heutigen, in das alles einfließt, was seit Mittelalter und Romantik geschah, in der Wirklichkeit, wie in der Fiktion. Der Fischer, dessen Frau erst reich, dann Kaiser, dann Papst werden will, angelt vor der Elbphilharmonie. Als die Jungfrau Maleen aus dem Turm entkommt, in den ihr Vater, der König, sie eingemauert hat, findet sie sich im zerbombten Berlin wieder, am Wegesrand zwischen den Trümmern liegt ein zerstörter Panzer. Die zwölf Apostel warten in Kryotanks auf die Geburt des Christkinds, als wären sie Raumfahrer in einem Science-Fiction-Film. Der Dalai Lama tritt auf, Bill Gates, Gandalf, statt Hütten gibt es Dönerläden und Discount-Bäcker, am Ende des Waldes ragt die Skyline des Frankfurter Bankenviertels gen Himmel. An Schrats Bildfindungsprozess kann man sich online unter grimmschrat.de beteiligen und hineinlauschen in die eigenen, dunklen Tiefen der Imagination.

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