Männerkrise:Die Falltür unter mir

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Per Petterson: Männer in meiner Lage. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2019. 286 Seiten, 22 Euro. (Foto: Hanser)

Der norwegische Autor Per Pettersson erzählt vom Verlust der Familie, der Frau, der Kinder: Mahlstrom-Prosa.

Von Christoph Schröder

Fast könnte man meinen, der Norweger Per Petterson hätte für seinen neuen Roman bewusst den Titel zur allgemein ausgerufenen Krise der Männlichkeit gewählt: "Männer in meiner Lage" klingt nach einem Ratgeber und legt den Gedanken nahe, dass hier von einem erhöhten Standpunkt aus reflektiert werden könnte. Das exakte Gegenteil ist der Fall. So radikal und tief ist dieser Autor wohl in bislang keinem seiner Romane in die individuellen Verschachtelungen und in die existenzielle Antriebslosigkeit seiner Figuren vorgedrungen wie jetzt. Der Autor selbst hat sich in Interviews stets gegen die Vermutung gewehrt, er würde einem übergeordneten gesellschaftlichen Phänomen nachspüren. Der Lauf der Zeit geht voran, sein maroder Held geht mit, zwangsläufig.

Petterson-Leser kennen den Ich-Erzähler Arvid Jansen bereits aus den Romanen "Im Kielwasser" und "Ich verfluche den Fluss der Zeit". Jansen ist Pettersons Alter Ego; er ist Schriftsteller und ein Mann, der, wie Petterson selbst, seine Eltern und einen Bruder beim Brand der Scandinavian Star Ferry im April 1990 verloren hat. 158 Menschen starben seinerzeit auf dem Weg von Oslo nach Jütland im Rauch und in den Flammen. "Im Kielwasser" fiktionalisiert die katastrophische Erfahrung auf beeindruckende Weise.

Ob seine Frau aus der toxischen Schwärze, die er verbreitet, fliehen wollte, bleibt offen

Nun befinden wir uns zwei Jahre später, im Herbst 1992, und Arvids ohnehin erschüttertes Dasein hat sich um eine weitere Problemzone erweitert: Vor einem Jahr hat Turid, seine Frau, ihn nach rund 15 Ehejahren verlassen und die drei Töchter, zwischen fünf und zwölf Jahren alt, mitgenommen. Turid hat sich den "Farbenfrohen", wie Arvid sie nennt, zugewandt. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Art Sekte handelt oder ob Turid nur der toxischen Schwärze, die Arvid um sich herum verbreitet, entfliehen wollte, bleibt offen. Wie so vieles in "Männer in meiner Lage", in dessen Anfangsszene Turid ihren Ex-Mann frühmorgens telefonisch aus dem Schlaf reißt, damit er sie an einem verlassenen Bahnhof einsammelt. Es wird keine weitere Erklärung dafür geben; das Unbegründete ist stilbildendes Prinzip des Romans.

Das Drama seiner Kinder ist ein Hintergrundrauschen seines Weltschmerzprotokolls

Pettersons Erzählen ist so irritierend wie anziehend, weil es keine Richtung und kein Ziel hat. Es gibt lange, von Musik begleitete Autofahrten in dem alten Mazda Kombi, in den Arvid sich früher, als Turid noch nicht weg war, hin und wieder zum Schlafen gelegt hat, um für sich sein zu können. Einmal nimmt Arvid zu einer der Fahrten seine Kinder mit; der Ausflug endet in einem Desaster, weil Arvid wie auf Autopilot auf Selbstzerstörung gepolt ist. Die Falltür unter ihm, so heißt es einmal, knirsche beständig.

Es gibt Frauen in Arvids Leben, viele, eine nach der anderen. Er trifft sie in Bars, sie wohnen in der Nachbarschaft, sie gehen nach dem Sex nach Hause oder bleiben über Nacht; das spielt keine Rolle. Petterson begleitet Arvid bis in die intimsten Augenblicke hinein. Die Kunst seines Schreibens besteht darin, immer dann besonders kalt zu sein, wenn eigentlich Wärme produziert werden sollte. Friedhofsgänge und Kneipenschlägereien prägen Arvids Alltag. Und die Literatur: "Wer wäre ich ohne sie, wer wäre ich ohne Beauvoir, ohne Sandemose, Cora Sandel, Hamsun, wer wäre ich ohne Jan Myrdal, Hemingway und Jayne Anne Philips, ohne Melville, Isaak Babel und Strindberg. Nein, wer wäre ich dann. Ich wusste es nicht."

Der Antriebsmotor von Pettersons Mahlstrom-Prosa, in die erstaunlicherweise immer wieder kurze ironische, freiwillig komische Passagen eingearbeitet sind, ist der Verlust. Der Verlust der Familie, der Verlust der Frau und der Kinder. Melancholie, Ruhelosigkeit, Einsamkeit grundieren die Stimmung und den Tonfall. Arvid treibt durch die Tage und Wochen. Die Zeit, und diese Erkenntnis spiegelt sich auch in der fragmentarischen Struktur des Romans, hat ihre Bedeutung verloren. "Es gab", so Arvid, "kein Früher mehr. Es gab nur noch das Jetzt." Das rein phänomenologische, absichtslose Schauen hat Konsequenzen: "Männer in meiner Lage" endet mit einem Sprung ins Jahr 1996. Arvid hat einen Roman erfolgreich beendet. Er ist 43, seine älteste Tochter Vigdis mittlerweile 16 Jahre alt. Arvid holt sie ab, um sie in die Psychiatrie einzuliefern. Auf ihren eigenen Wunsch hin. Das Drama des traumatischen, entgleisten Aufwachsens seiner Kinder hat Arvids Selbstbeobachtung und Weltschmerzprotokoll als permanentes Hintergrundrauschen begleitet. Dass Arvid dafür nun, wenn auch spät, offenbar ein Gehör entwickelt hat, ist ein Hoffnungsschimmer.

© SZ vom 02.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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