Mädchen im Kino:Neue Heldinnen

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Das Plakatmotiv von"The Hunger Games: Catching Fire" mit Jennifer Lawrence - eine der neuen weiblichen Heldinnen. (Foto: REUTERS)

Der neue Antoine Doinel ist eine Frau. Bisher wurden die Coming-of-Age-Stories im Kino von Jungs dominiert. Jetzt sind die Mädchen an der Reihe: Vom Leben der Adèle bis zu "Hunger Games".

Von David Steinitz

Mit der gleichen Leidenschaft, mit der die fünfzehnjährige Adèle beim Abendessen die Spaghetti in sich hineinschlürft, den großen Mund soßenverschmiert, erzählt sie auch von ihrem Lieblingsbuch. Es ist mehr als 200 Jahre alt: "Das Leben der Marianne" von Pierre de Marivaux.

Dieses nie vollendete Mädchen-Epos ist eine der wenigen weiblichen Initialisierungsgeschichten des 18. Jahrhunderts - und auch einer der fieseren Brocken der französischen Literatur, an dem sich schon so mancher die Zähne ausgebissen hat. Wenn aber Adèle über dieses Buch spricht, zärtlich, fast verliebt, ist sie ganz frei von adoleszenter Coolness oder intellektueller Überheblichkeit. Angesteckt von der Leidenschaft dieses Mädchens aus dem Arbeiterviertel, dem keine Bildungsbürger-Bibliothek der Eltern zur Verfügung steht, möchte man sofort zur Marivaux-Gesamtausgabe greifen.

Von Sex über Spaghetti zu Marivaux

Im diesjährigen Cannes-Gewinner "Blau ist eine warme Farbe" erzählt Abdellatif Kechiche vom Coming of Age der Schülerin Adèle - und von ihrer ersten großen Liebe zu der Kunststudentin Emma. Und auch wenn der Film, der in zwei Wochen in Deutschland anläuft, bislang vor allem wegen seiner langen und expliziten Sexszenen für Gesprächsstoff gesorgt hat, liegt sein eigentlicher Reiz in der Summe seiner Details - vom Sex über die Spaghetti bis hin zu Marivaux. Sie alle lassen den Hunger dieses Mädchens auf das ganze große Leben ahnen - einen Hunger, wie man ihn nur aus der paradiesischen Hölle der Pubertät kennt.

Nach den Standards des modernen Überwältigungskinos ist es wenig aufregend, einem jungen Mädchen beim Lesen oder Spaghettiessen zuzusehen. Und doch steckt gerade in diesen Szenen eine ganz neue Lust an weiblichen Coming-of-Age-Geschichten, die es bislang im Kino selten gegeben hat. "Blau ist eine warme Farbe" gehört in eine ganze Reihe von Filmen, die junge weibliche Heldinnen in den Mittelpunkt rücken - und sich wirklich für ihr Innenleben interessieren.

Vom weiblichen Erwachsenwerden

Im ersten Jahrhundert seines Bestehens hat sich das Kino, wenn es vom Erwachsenwerden erzählte, fast nur für die Perspektive der Jungs interessiert. Die wenigen Geschichten über das sexuelle Erwachen und Heranwachsen junger Mädchen waren meist verklausulierte Märchen mit recht ungenierter Genitalsymbolik. Ein paar schöne Klassiker sind dabei entstanden, das Menstruations-Horrorstück "Carrie" zum Beispiel, die esoterische Adoleszenz-Meditation "Picknick am Valentinstag" oder "Black Moon", eine postapokalyptische Variante von "Alice im Wunderland".

Zuletzt reihte sich der Südkoreaner Park Chan-wook mit seinem US-Debüt, der erotisch-viktorianischen Groteske "Stoker", in diese Erzähltradition ein. Was es aber kaum gegeben hat, waren Mädchengeschichten ohne surrealen Touch oder quasireligiöse Überhöhung. Mädchengeschichten vom Bücherlesen und Spaghetti-Essen - und vom erstem Sex ohne symbolische Todesstrafe oder Vertreibung aus dem Paradies.

Das lag bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst einmal daran, dass die Zensoren in den Filmprüfstellen überall der Meinung waren, die Zuschauer sollten lieber nicht so genau wissen, was in den Köpfen heranwachsender Mädchen vor sich gehen könnte. Stanley Kubrick zum Beispiel litt zeit seines Lebens darunter, dass er in seiner "Lolita"-Adaption von 1962 nicht ansatzweise das zeigen konnte, was er bei Vladimir Nabokov zu finden glaubte. Er musste sich ins Symbolische flüchten - nicht nur, was das Körperliche anging. Auch das reale Leben eines Teenagers konnte er nicht abbilden. Für den Regisseur mit Chirurgen-Blick ein Graus.

Zudem waren bis vor nicht allzu langer Zeit die meisten Produzenten und Studio-Executives der festen Überzeugung, dass es weltweit am Zuschauerinteresse für weibliche Hauptfiguren mangele - weil Frauen und Mädchen zwar gewillt seien, einem männlichen Helden zu folgen, keinesfalls aber umgekehrt.

Erst in den letzten Jahren hat es eine Trendwende gegeben. Besonders mit der "Twilight"-Serie erkannte Hollywood, wie viel Geld sich mit den verträumten Protagonistinnen aus den derzeit so erfolgreichen archaischen Fantasy-Geschichten machen lässt. Diese Heldinnen folgen zwar meist noch einer Art konservativem Fünfjahresplan zur Hochzeit, und so lange muss die Entjungferung warten. Aber in den USA haben sie männliche Protagonisten doch auf eine Weise in die zweite Reihe gedrängt, die vorher kaum üblich war. Und mit dem derzeit erfolgreichsten Franchise-Moloch der Welt, der "Tribute von Panem"-Reihe, gesteht auch Hollywood den Mädchen mittlerweile wildere Hauptrollen zu.

Jennifer Lawrence als kratzbürstige Katniss Everdeen ist in diesen Filmen nicht nur den Jungs in den "Hunger Games" ebenbürtig, sie rüttelt mit ihrer ganz und gar nicht unterwürfigen, ideologieresistenten Art heftig an der patriarchalen Struktur dieser Phantasiewelt.

Weibliche "Éducation sentimentale" mit Porno-Chic

Auch in Europa sind neue Mädchenfiguren in den Mittelpunkt gerückt, meist wesentlich körperbetonter als in Hollywood. Lars von Trier zum Beispiel wirft gerade die PR-Maschine für sein Coming-of- Age-Opus "Nymphomaniac" an, einer Art weiblicher "Éducation sentimentale" mit Porno-Chic, das im nächsten Jahr in zwei Teilen ins Kino kommt.

Mit Abstand am meisten gefeiert wird der neue Blick auf die Mädchen derzeit aber im französischen Kino. Von jungen Zauberwesen hat man hier immer besonders gerne erzählt - sie aber auch besonders gerne abgöttisch fetischisiert und stilisiert. Das hat vor allem damit zu tun, dass die berühmtesten Vertreter des französischen Kinos - Truffaut, Godard, Chabrol und Kollegen -, die so manche Halbgöttin erfunden haben, ihr Handwerk aus den Filmen der harten Hollywood-Kerle der Studio-Ära abgeschaut hatten.

Hitchcock, Hawks und Konsorten wiederum interessierten sich für Mädchenköpfe deutlich mehr von außen als von innen. Das schmälert zwar weder die filmgeschichtliche Leistung der Amerikaner noch der Franzosen. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass gerade das französische Kino hier etwas nachzuholen hat - und deshalb so lustvoll von authentischeren Protagonistinnen erzählen will.

Dazu gehört zum Beispiel Mia Hansen-Løves zärtlich-melancholische Liebeskummergeschichte "Un amour de jeunesse/Jugendliebe", die letztes Jahr leider ziemlich unbeachtet bei uns im Kino lief - ähnlich wie "Blau ist eine warme Farbe" nimmt sie das ganze Panorama des Heranwachsens eines Mädchens zur Frau in den Blick. In der Hauptrolle Lola Créton, eine der spannendsten französischen Nachwuchsdarstellerinnen, die auch in "Après Mai/Die wilde Zeit" von Hansen-Løves Lebensgefährten Olivier Assayas zu sehen ist, der sich in seiner Post-68er-Studie in der Schar seiner jugendlichen Darsteller für die weiblichen Charaktere genauso interessiert wie für die Jungs. Was er auch muss, um den klischeehaften Chauvinismus der 68er sichtbar zu machen.

Emanzipierte Lolitas

Die meiste Aufmerksamkeit aber haben Abdellatif Kechiche und sein Kollege François Ozon für ihre Mädchen-Studien bekommen. Weil neben den vielen anderen Details auch der explizite Sex in ihren Filmen eine große Rolle spielt, gab es den ein oder anderen bösen Kommentar über männlichen Voyeurismus. Doch gerade den packt François Ozon in "Jung & schön", der seit Mitte November läuft, mit großer Ironie an.

Formal rückt er den Klischees über den neurotischen männlichen Überhöhungswillen auf die schönen Kinofrauen schlicht durch Parodie zu Leibe. Zum Beispiel mit einem gierigen Fernglasblick auf seine hübsche Protagonistin am Strand, der gleich den Beginn des Films markiert - und die voyeuristische Kino-Perspektive nicht nur des Regisseurs, sondern auch des Zuschauers karikiert. Oder mit einer Schattenhand in Nosferatu-Tradition, die unter der gleißenden südfranzösischen Sonne geisterhaft den Körper seiner Hauptdarstellerin abtastet.

Inhaltlich verweigert er sich stoisch einem Urteil über das Treiben seiner Hauptfigur. Marine Vacth spielt bei ihm eine Schülerin, die sich prostituiert - eine von jeder Verträumtheit befreite "Belle de jour", die nicht wie einst Catherine Deneuve der Langeweile der Pariser Oberschicht entfliehen muss, sondern sehr genau weiß, was sie tut. Und gerade dadurch ihre Umwelt - und den Zuschauer - provoziert.

Abdellatif Kechiche wiederum plant sein Werk über das emotionale Innenleben der jungen Adèle, das schon jetzt drei Stunden dauert, noch epochaler. Im Original heißt seinen Film "La vie d'Adèle, chapitres 1 & 2". Einmal als Anspielung auf Pierre de Marivaux. Vor allem aber, weil er in Interviews immer wieder betont hat, dass er seiner Adèle-Geschichte in den nächsten Jahren durchaus noch weitere Kapitel hinzufügen möchte. Das würde dann ein großes weibliches Gegenstück zu Truffauts berühmten Antoine-Doinel-Zyklus, in dem dieser Jean-Pierre Léaud über Jahrzehnte immer wieder mit einem neuen Film beim Aufwachsen zusah.

© SZ vom 07.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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