Madonna:Außer Kontrolle

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Auf ihrem neuen Album "Confessions On A Dancefloor" kommt die wandelbare Sängerin wieder bei sich selbst an. Auf einmal ist klar: So und nicht anders muss die wahre Madonna sein.

Tobias Kniebe

Genauso muss es sich anfühlen, wenn ein neues Madonna-Album im Laden steht. Wohin man auch geht, sie liegt einem in den Ohren, wo man auch einschaltet, sie ist gerade dran.

Von der Banalität der "ernsten" Texte zurück zum unwiderstehlichen, überbordenden Disco-Meisterwerk: Madonna. (Foto: N/A)

Das Kleinhirn ist schon ganz durchlöchert von den spitzen Synthesizer-Arpeggios, die ihre Single permanent mit Hochdruck durch die Gegend schießt - und eigentlich spielt es keine Rolle, dass man diese Soundfetzen längst unter Abba abgespeichert hatte. Oder doch?

Einerseits führt zwar kein Weg an der Feststellung vorbei, dass Madonna mit ihrem Hit "Hung Up" schon wieder diese gewisse Unentrinnbarkeit erreicht hat, die sie erst zu Madonna macht - aber andererseits wirkt dieser Triumph momentan nur geborgt.

Die Hälfte der Tantiemen landet schließlich in Schweden, wo sich zwei ältere Herren namens Benny und Björn vermutlich höchst unbeeindruckt über die Bärte streichen: Auf die paar Millionen kommt es nun auch nicht mehr an.

Jetzt aber: Das Album. "Confessions On A Dancefloor". Einmal tief Luft holen. Kurz überlegen. Und sicherheitshalber gleich mal selbst ein Geständnis vorwegschicken.

Dieser Autor gehört zu einer Generation, die ihr romantisches Erwachen in den frühen bis mittleren achtziger Jahren erlebte, und dieses Erwachen wird für immer an bestimmte äußere Zeichen gebunden sein: An eine gewisse Art des damals herrschenden Synthesizer-Einsatzes, an eine gewisse Form der Mädchenfrisur, heute würde man sie vielleicht die fedrige Porno-Welle nennen, und an gewisse Schlüsselreize wie rosa Aerobicsuits und weiße Stulpen an Frauenbeinen - und eben an das Auftauchen von Madonna.

Killertracks fürs nächste halbe Jahr

Es kann daher sein, dass er nach mehrtägiger Beschäftigung mit der neuesten Madonna-Inkarnation, die viele dieser Schlüsselreize jetzt wieder bedient, nicht mehr ganz zurechnungsfähig ist, dass er gerade auf einer Ebene manipuliert wird, die sich dem wachen Bewusstsein entzieht. Es hilft aber nichts, ein Urteil muss her. Also los.

Es dauert exakt zwei Lieder, bis "Confessions On A Dancefloor" das Gefühl hinwegfegt, das neueste Madonna-Revival sei nur von Abba geborgt. Wer "Hung Up" momentan nicht aus dem Hirn kriegt, ist im Grunde noch in der Aufwärmphase, er wird gerade erst weich geklopft für drei, vier Killertracks, die noch das nächste halbe Jahr dominieren werden.

Damit pulverisiert Madonna nicht nur ihr letztes Werk, das glanzlose "American Life". Auch "Music" wird klein und kleiner, je länger man lauscht, dann erscheint auf einmal das eigentlich hochangesehene "Ray of Light" wie prätentiöser Quark für Kritiker, schließlich lösen sich die ganzen introspektiven und balladesken neunziger Jahre in Luft auf.

Dann greift der Schwund sogar auf die späten achtziger Jahre über, bis schließlich ein Monument im Weg steht, an dem es kein Vorbeikommen gibt: "True Blue", das beste Madonna-Album überhaupt.

Mit anderen Worten: Dies könnte das Tollste sein, was Madonna seit zwanzig Jahren gemacht hat! Noch zwei Wochen Bewährungsprobe im Dauereinsatz, dann sollte auch der Konjunktiv aus dem Satz gestrichen sein.

Zu süß. Zu eng. Zu rosa.

Schon jetzt aber sieht die Reise, die Madonna bis hierher geführt hat, über weite Strecken wie ein Irrweg aus. Es war eine Reise hin zum "guten Geschmack", zur Selbstverfeinerung und zur angeblichen spirituellen Reifung, weg von der Straßengöre mit den musikalischen Killerinstinkten, hin zur britischen Landhaus-Lady mit Kabbala-Bewusstsein und pseudoenglischem Akzent.

Jedes Mal, wenn man ihr wieder ein Stück "reifes Künstlerinnentum" bescheinigte, war ein Teil des originären Madonnentums verloschen - und konnte, wie man im Rückblick sieht, durch nichts annähernd Gleichwertiges ersetzt werden.

Man hört diese neuen Songs und wundert sich, wie freundlich man in den letzten Jahren über die Banalität ihrer "ernsten" Texte hinweggesehen hat, wie willig man minimalistische Arrangements und zerhackte Gitarrenriffs als weltbewegende Neuerungen akzeptierte.

Jetzt legt sie ein unwiderstehliches, überbordendes Disco-Meisterwerk wie "Sorry" hin, mit einer geborgten Basslinie von den Jackson Five, die aber erst hier ihren perfekten Ort findet, mit eingesprochenen Kommentaren, die an "La Isla Bonita" erinnern, und auf einmal ist klar: So und nicht anders muss die wahre Madonna sein.

Over The Top. Out Of Control. Wie ganz früher eben: Ein bisschen zu süßlich, zu eng im Schritt, zu rosa, zu Spandex, zu Pornofrisur. Ihre Meisterschaft liegt in einer Sphäre, die mit gutem Geschmack gerade nicht zu begreifen ist, in der unstillbaren Sehnsucht der Vorstadtdisco, im großen, hormonüberladenen, berauschenden Jenseits der Peinlichkeit. Dort tobt sie jetzt wieder herum, als sei sie niemals weg gewesen.

"Once upon a time, there was a boy, there was a girl", singt sie in "Forbidden Love", noch so einem unfassbaren Song. Genau darum ging es, als sie uns zum ersten Mal das Herz gebrochen hat, und darum geht es jetzt wieder, als sei alles noch genau wie damals.

Cool? Neu? Wurscht!

Da mischt sich Erste-Liebe-Pathos mit wunderbarer Traurigkeit, mit Vocoder-Chören und in den höchsten Registern tirilierenden Synthie-Ornamenten, die an New-Romantic-Ritter à la Alphaville erinnern.

Nach den herrschenden Dancefloor-Gesetzen, die sich längst zum undurchdringlichen Kodex verworren haben, ist diese Gesamtmischung eigentlich verboten, fragwürdig und degoutant.

Jetzt mit so einem Song zu kommen, ist so ziemlich das Gegenteil der üblichen Madonna-Strategie: Immer haarscharf dem neuesten Trend hinterher, immer mit dem heißesten Produzenten an Bord.

Stuart Price aka Les Rythmes Digitales, ihre neueste Songschreiber-Geheimwaffe, ist weder heiß noch kalt, nur ein romantischer Einzelgänger, dessen wahres Potenzial man bisher nicht einmal ahnen konnte.

Gemeinsam schworen sich die beiden dann wohl, dass ihnen alles Neue und Coole jetzt zur Abwechslung mal wurscht wäre.

"Confessions On A Dancefloor" wird genau deshalb alles verändern. Nicht zuletzt bringt die Platte den kompletten Rest der elektronischen Szene in Erklärungszwang: Wenn wieder Musik möglich ist, die so brillant, überzeugend und unverfroren auf die mächtigsten und niedrigsten Instinkte des Dancefloors zielt, was soll dann bitte die Verzagtheit des herrschenden Gefrickels?

Es geht um Direktheit und unentschuldbaren Spaß. Es geht um Romantik, die nicht mehr so lange durch irgendwelche Filtersysteme gejagt werden muss, bis sie jede Sprengkraft verloren hat, und es geht um Magie.

Zerlegt man "Hung Up" in seine Bestandteile, bleibt nicht viel mehr als ein Abba-Sample und eine Frau, die ungeduldig vor dem Telefon wartet und irgendwann die Nase voll hat - die ausgelatschte Grundsituation jeder Beziehungskomödie. Die Zauberkraft, die dieses Album ausstrahlt, wird sich so nicht erfassen lassen - und sie ist am Ende alles, was zählt.

Warum Madonna in Interviews so wahnsinnig verspannt wirkt, ob ihr 47 Jahre alter Hintern mit diesem rosa Aerobicsuit aus dem Video wirklich noch passend bekleidet ist, was jüdische Rabbis zu einem ihrer Songs sagen, dessen Text ohnehin völlig obskur bleibt - wen interessiert das schon?

Sie hat uns hier wieder Momente des reinen musikalischen Glücks geschenkt, das ist alles, was zählt - und genauso muss es sich anfühlen, wenn ein neues Madonna-Album im Laden steht.

© SZ vom 11. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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