·:Mach dich klein und halt dich still!

Für den Leipziger Buchpreis 2010 nominiert: Jan Faktor erzählt auf beglückende Weise von seinem unglücklichen Leben in Prag

Der Frage "Was willst du einmal werden?" sieht sich jeder männliche Sprössling früher oder später ausgesetzt. Für den jungen Georg gibt es darauf nur eine wirklich befriedigende Antwort: Müllmann! Allein schon wie so einer die schweren verzinkten Rundtonnen auf ihre Ränder stellt und Rädern gleich rollen lässt, immer zwei auf einmal, eine im, die andere gegen den Uhrzeigersinn, ein wahrer Künstler seines Fachs! Und welchen dumpfen, drohenden Lärm er dabei in den gewölbten Hauseingängen machen muss und darf! "Glühende Wildheit auszustrahlen war für diese Leute Pflicht und Bestandteil ihres Berufskodex, kleine Kinder mit dreckigen Händen oder noch dreckigeren Handschuhen zu erschrecken war ihr Kulturprogramm. Aber üble Wut musste immer im Spiel sein. Der Lohn für die Beseitigung von jedermanns Dreck beinhaltete einfach das Recht auf Rache, das Recht auf das Rückschleudern von Absonderungen, die irgendwo übergequollen waren und in die geordnete Wirklichkeit nicht passten."

In anderen Städten wäre dies der Traum eines Fünfjährigen gewesen. Im sozialistischen Prag aber bewirbt sich Georg noch als junger Mann auf den Posten und ist untröstlich, als er abgewiesen wird. Kaum eine Entschädigung stellt es dar, als er schließlich einen Job als Lastwagenfahrer findet, der für Baustellen Kloschüsseln ausfährt. Die sind zwar noch neu und sauber - aber immerhin. So sieht der groteske Humor des Jan Faktor aus, der sein Buch "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" als "Roman" deklariert, obwohl es sich dabei eindeutig um höchstpersönliche Erinnerungen handelt, die über den gegenwärtig vorwaltenden autobiografischen Zug in der Literatur noch weit hinausgehen; kaum dass die Namen ein wenig verdeckt werden. Das präsentiert sich, wie schon der barock angehauchte Untertitel verheißt, auf eine schelmisch vergnügte Weise; aber es verrät doch auch viel über den jammervollen Zustand der Gesellschaft, um die es geht, die der Tschechoslowakei von den Fünfziger- bis zu den Siebzigerjahren.

Wer dort überleben wollte, vermied am besten jegliche ins Auge fallende, anspruchsvolle Aktivität. Denn wer sich hervortat, lief Gefahr, in den fast bruchlos den KZ's der Nazis folgenden Lagern der Stalinzeit zu verschwinden. Der kurzen Zwischenerwärmung im Prager Frühling folgten nach 1968 die zwanzig bleiernen Jahre der "Normalisierung", als praktisch alle Intellektuellen aus ihren Berufen und in die elendesten Jobs gedrängt wurden. Mach dich klein und halt dich still! Dieses Lebensmotto wurde den Tschechen von ihren beiden wirkungsmächtigsten literarischen Figuren ans Herz gelegt, Bohumil Hrabal und dem braven Soldaten Schwejk. Als deren Schüler und Nachfahre erweist sich, wenngleich nicht ohne es zu reflektieren, auch Jan Faktor. Beide lehren die schlaue Demut, die Mimikry an den Dreck. Doch wer sich so tarnt, wird selbst vom Dreck ununterscheidbar. Hier liegt das Tieftraurige dieses ungemein lustigen Buchs.

Der faszinierten Lust, mit der dieser Erzähler sich im Dreck wälzt, der Verharzung lang einwirkender Küchenfette, dem Versagen von Abflussrohren, der Wohnungs- und Wurstbegrünung durch Schimmelbildung muss hier nicht im Detail nachgegangen werden. Sie nimmt breiteste Partien dieses nicht eben schmalen Buchs in Anspruch und zeugt von einer Selbstbehauptung, die sich nur als Selbstauslöschung realisieren kann, also notwendig masochistische Züge trägt.

Georg wächst in einem Haushalt voller Frauen auf, die miteinander verschlungen sind wie ein Rattenkönig; dreizehn Namen zählt er auf, dann winkt er ab: es lohne sich ja doch nicht, sie zu unterscheiden. Seine Mutter besteht darauf, ihn bis zur Pubertät selbst zu baden, er muss mit seiner Großmutter im selben Zimmer schlafen. Im eigentlichen Sinn erwachsen wird er nie. Mit einer weitläufigen Verwandten, mehr als zwanzig Jahre älter, die als Künstlerin auf dem Lande lebt, macht er seine ersten und intensivsten sexuellen Erfahrungen, bei deren Schilderung Ekelgrenzen radikal missachtet werden.

Gerade das Ekligste, merkt der Erzähler an, liefere ja die fruchtbarste Grundsubstanz für so süße Dinge wie zum Beispiel Erdbeeren; und so solle man vor ihm immer den Respekt haben, dem man dem Nützlichen schulde. Aber darüber geht er und geht diese Gesellschaft weit hinaus: In ihrem Drang zur schützenden Destruktivität entdecken sie auch im Nützlichen das Ekelhafte. Wer einen "Service" anbietet, dem schlägt nicht nur deswegen höhnisches Gelächter entgegen, weil so etwas im Sozialismus, diesem Gegenteil einer Dienstleistungsgesellschaft, von vornherein als absurd erscheint, sondern weil man es sich tschechisch ausbuchstabiert: ser více - scheiß mehr!

Ausbruchsversuche misslingen. Wie könnte Georg denn auch der kannibalischen Liebe einer Mutter entrinnen, die sonst niemanden hat auf der Welt außer ihm? Ganz gewiss kommt hier nicht der geschiedene Vater in Betracht, ein brutales, versoffenes Großmaul (vierzig Flaschen Bier am Tag sind kein Problem) und ehemaliger Mitarbeiter beim Geheimdienst. Warum diese Familie fast ausschließlich aus Frauen besteht, erfährt man eher beiläufig: weil sie Auschwitz und Theresienstadt im Schnitt besser überstanden hatten. Es empfiehlt sich unter den Zeitgenossen, diese Vorgeschichte nicht an die große Glocke zu hängen. Als Georg über einen Mitschüler wegen dessen typisch jüdischen Charakterzügen schimpft, hört er zu seiner maßlosen Verblüffung: Aber wir sind die Juden! Das wusste er nicht. Eine solche Familie von Überlebenswracks kann man nicht verlassen.

Und doch gelingt dem Erzähler zuletzt die Befreiung: indem er erzählt. Jan Faktor hat davon gesprochen, wie lang er dieses Buch mit sich herumtrug, und dass er erst jetzt, wo alle wesentlichen Figuren des Buchs tot sind, es so hat schreiben können, wie er es als nötig empfand. Erst jetzt ist die Flucht aus der erlebten Verschämtheit in die vollendete Schamlosigkeit ihrer nachträglichen Schilderung möglich. So erhält die glotzende Gier des Jünglings das Wort, bis hin zu dem Punkt, wo aus ihr die Verehrung zutage tritt, die er den Frauen - allen Frauen - entgegenbringt, fast wie ein Minnesänger, freilich ohne Sublimierungsleistung. Voll Andacht und blumiger Obszönität schwelgt er in den anatomischen Details. Sexuelle Freiheit war die einzige Freiheit, die der Sozialismus nicht beschnitt, sondern sogar noch aktiv beförderte: als Ventil und Ausgleich für alles, woran er es sonst fehlen ließ. Wenn jedoch im Sexualkundeunterricht die Rede davon war, ein "gut gepflegtes weibliches Organ" verströme einen Geruch wie Bananen , so rief das einen heftigen, aber unerfüllbaren Wunsch nach Verifizierung hervor - denn wo sollte man im Sozialismus die Bananen hernehmen?

In diesem Buch ist, seiner schalkhaften Miene zum Trotz, eine unglaubliche Menge Unglück auf höchst unordentliche Weise versammelt. Und doch wird es zum Sprungbrett in ein doppeltes Glück: das des deutschen Lesers, der auf abwechslungsreiche, immer originelle Weise Einblick in die jüngere Kultur-, Sozial- und Sittengeschichte jenes Auslands erhält, das die längste Grenze überhaupt mit dem deutschsprachigen Raum besitzt, indem es sich tief in diesen hineinstülpt, unseres innigsten Nachbarn; und das des Autors, der auf diese Weise den großen Vorzug des Unglücks gegenüber dem Glück, so unendlich mannigfaltiger in seinen Gestaltungen zu sein, zum Vorteil, ja zur Erlösung wendet. Dieses Buch ist gerade als Buch mehr als ein solches. Es ist ein ganzes Leben, das nur so, als geschriebenes, zu jener sinnhaften Form zusammentritt, die es vorher schmerzlich entbehrte. Gerade die "Sorgen um die Vergangenheit" kommen darin endlich zur Ruhe. BURKHARD MÜLLER

JAN FAKTOR: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 637 Seiten, 24,95 Euro.

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