Die großen Geschichten immer wieder zu erzählen, gehört zur Oper, seit sie aus der Auseinandersetzung mit den antiken Mythen entstand. Dennoch sind Komponisten heute zurückhaltend darin, Stoffe neu zu vertonen, die bereits in einer bekannten Opernversion vorliegen. Für ihre Neuerzählung sind im Musiktheater eher die Regisseure zuständig. Während der Film bis heute wenig Hemmungen kennt, guten Geschichten ein neues Gewand zu verleihen.
Insofern erstaunt es vielleicht nicht, dass sich Pascal Dusapin bei seiner nun in Brüssel uraufgeführten Oper "Macbeth Underworld" eher von Verfilmungen der Tragödie William Shakespeares hat inspirieren lassen als von Giuseppe Verdis Oper aus dem Jahr 1847. Der Literat Frédéric Boyer hat den englischen Text dafür auf die zentralen Protagonisten eingedampft, den Wortlaut teilweise beibehaltend, teilweise zeitgenössisch überschreibend. "Schau! Sie kehren auf die Bühne zurück", rezitiert der Tenor Graham Clark, "sie werden wieder und wieder singen". Wie Untote werden die Figuren aufgerufen, blutig steckt dem ermordeten Banquo bereits das Messer im Rücken.
Als Bildungsbürger im besten Sinne hat sich Pascal Dusapin schon immer großer Stoffe bedient. Medea, Faust und Penthesilea bevölkern die neun Opern des französischen Komponisten, von denen einige am Brüsseler Théâtre de la Monnaie uraufgeführt wurden. Wie der Titel zeigt, faszinieren ihn an Macbeth die Kräfte der Unterwelt, verkörpert durch Graham Clark in der Rolle des Pförtners, der wohl die Schlüssel zur Hölle in der Hand hält und die Hexen, die in Gestalt dreier Solistinnen und eines Frauenchors omnipräsent sind. Ihr Gegengewicht finden sie in der Knabenstimme des fabelhaften jungen Solisten Naomi Tapiola, der als Symbol einer ambivalenten Unschuld am Ende Macbeth zur Strecke bringt.
Die Hexen und das Kind sind Mächte einer Natur, die den Menschen keineswegs freundlich gesonnen ist. Die Bühne wird vom gigantischen Astgeflecht eines offenbar uralten Baumes überwuchert, in das sich Elemente eines gotischen Schlosses schieben. Die Ästhetik der Inszenierung von Thomas Jolly könnte einem im Mittelalter angesiedelten Videospiel entnommen sein, erinnert aber auch an die Gothic Novel. Nur die magische Lichtregie von Antoine Travert leuchtet die weiß gekleideten Protagonisten aus dem dunklen Hintergrund heraus, in dem sie wie in einem Albtraum gefangen bleiben.
Dabei verschiebt sich die Perspektive auf das zentrale Paar: Seine psychologische Entwicklung interessiert Dusapin wenig, eher scheint es unter einem mythischen Bann zu agieren, der es in die Geschichte seiner Verfehlungen zurückzwingt. Nicht monströser werden Macbeth und seine Lady im Verlauf der Handlung, sondern sich selbst fremder. Sie ist hier keine von Ehrgeiz getriebene Furie, sie erscheint - Reminiszenz an Roman Polanskis Verfilmung aus dem Jahr 1971 - fragil und von Traumata gequält. Magdalena Kožená singt sie mit weichfließendem Mezzosopran und verleiht ihr besonders über eine genaue Textdeklamation intensive Bühnenpräsenz.
Dusapin schreibt Gesangspartien, die die zeitgenössischen Gestaltungsmittel vom Ariosen über den Sprechgesang bis zu reinem Sprechen nutzen, zugleich den Sängern aber die Freiheit zum expressiven Gestalten gewähren. Georg Nigl, der hier als Macbeth zu hören ist, bleibt dabei blasser als seine Lady. Das hat damit zu tun, dass der Bariton, der als Mann für extreme psychische Zustände gilt, von der ersten Szene an Vollgas gibt und sich damit kaum Steigerungsmöglichkeiten offen lässt. Was zwischen den beiden hätte möglich sein können, spürt man in Liebesszenen, die Dusapin nur von den Klängen einer Erzlaute begleiten lässt, einem Instrument der Shakespeare-Epoche, deren Musik auch sonst anklingt.
Davon abgesehen fährt Dusapin durchaus auf, was das Orchestre Symphonique de la Monnaie hergibt. Es dominieren die dunklen Klänge der tiefen Streicher und Bläser, angereichert um die fahlen Register einer Orgel, die auf die metaphysische Dimension des Stoffs verweist: Dass in der illegitimen, von den Kräften der Unterwelt gesteuerten Herrschaft die Schöpfungsordnung in Frage gestellt ist. Der Umgang mit dem Material bleibt dabei so ökonomisch, wie man es von Dusapin kennt. Die Partitur besteht vor allem aus harmonischen Flächen, in denen das orchestrale Geflecht sich fortwährend verschiebt, ausdünnt und wieder verdichtet. Der metrisch flexibel gestalteten Textur gewinnt der Dirigent Alain Altinoglu eine hohe Sogkraft ab. Das reich, auch mit afrikanischen und lateinamerikanischen Instrumenten besetzte Schlagwerk steuert dazu oft die Geräusche der Geschichte bei: Glockenläuten und Schwertkampf, knackende Äste und das Pochen an das Tor des Pförtners, das sich menetekelhaft ausweitet.
Dusapin setzt diese Klänge nicht nur illustrativ ein, er integriert sie in die Partitur. Dennoch bleiben es letztlich jene, die man bei diesem Stoff erwarten darf. Dusapin geht es nicht darum, die Oper neu zu erfinden, sondern eher darum, sie mit zeitgenössischen Mitteln auf hohem handwerklichen Niveau fortzuführen. Die Geschichte der Macbeth-Fassungen bereichert er damit um eine, die auch wegen ihrer ökonomischen Sängerbesetzung von anderen Häusern nachgespielt werden dürfte.