Maaza Mengiste: "Der Schattenkönig":Das Märchen vom Krieg

Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, 1935

Haile Selassie beobachtet von der Veranda des Hauses eines schwedischen Generalstabsoffiziers die Übungen der Offiziersanwärter-Schule.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Maaza Mengiste schreibt mit dem Roman "Der Schattenkönig" weiter am Mythos des äthiopischen Herrschers Haile Selassie. Ein kurioses Buch.

Von Sigrid Löffler

Kaiser Haile Selassie war vierzig Jahre lang bis zu seinem Sturz 1974 autokratischer und zunehmend anachronistischer Herrscher von Äthiopien. Er ist ein Mythos, seine Herrschaft hat legendäre Züge. Er trug grandiose Ehrentitel - Löwe von Juda, Negus Negesti, Auserwählter Gottes - und sah sich als Erbe eines 3000 Jahre alten Reiches und als 225. Nachfolger des biblischen Königs Salomo und der Königin von Saba. Mit dieser mächtigen Legende hielt er, vom Volk lange Zeit geradezu sakral verehrt, seinen Vielvölkerstaat zusammen, verhinderte allerdings auch Reformen, weshalb er schließlich durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Sein Ende war grausig: Er wurde ermordet, in seinem Schlafzimmer mit einem Kissen erstickt, und unter den Dielen der Toilette seines Nachfolgers, des marxistischen Diktators Mengistu Haile Mariam, verscharrt.

Wie man einem solchen Mythos literarisch beikommen kann, das demonstrierte der polnische Afrika-Korrespondent Ryszard Kapuściński bereits vor mehr als vierzig Jahren in seinem abgründigen Meisterwerk "König der Könige", einer singulären Mischung aus Reportage, politischer Allegorie und Mythen-Erzählung. Indem er Haile Selassies ehemalige Diener, Hofschranzen, Spitzel und Lakaien vom bizarren Zeremonial-Leben und dem zunehmenden Realitätsverlust bei Hofe erzählen ließ, gelang Kapuściński ein paradoxes Kunststück: Er ließ den Mythos des Kaisers wieder aufleben, um ihn zugleich auszunüchtern und damit historisch zu erledigen.

Auch die Autorin Maaza Mengiste ist vom Mythos Haile Selassie fasziniert - so sehr, dass sie den Kaiser zur Zentralgestalt ihrer bislang zwei Romane machte. Als Vierjährige floh Mengiste nach dem Sturz des Kaisers mit ihren Eltern aus Addis Abeba, fand nach Umwegen über Nigeria und Kenia Zuflucht in den USA und lebt in New York. In ihren beiden zeithistorischen Romanen thematisiert sie die zwei größten Krisen in Haile Selassies langer Herrschaft: seine zeitweilige Vertreibung vom Thron während Mussolinis Abessinien-Feldzug in den 1930er Jahren und seinen Sturz vierzig Jahre später. Der Kaiser sei eine Legende, ein Mythos, sagte Mengiste im Interview, deshalb könne sie ihn fiktionalisieren und als Romanfigur ausfantasieren.

An der politisch-historischen Realität ist Maaza Mengiste kaum interessiert

Lässt sich ein Mythos mythisieren? Genau das erstrebte Mengiste bereits in ihrem Debütroman "Unter den Augen des Löwen" (2010), und jetzt, in ihrem neuen Roman "Der Schattenkönig", wiederholt sie dieses Erzählverfahren, sogar mit verstärkter Intensität. Der Roman ist in mehrfacher Hinsicht ein Kuriosum.

Er handelt von der wirklichkeitsverändernden Kraft des kaiserlichen Mythos. Der Roman spielt in den 1930er-Jahren während des Abessinien-Feldzugs, als italienische Truppen und eritreische Söldner Äthiopien überfielen, den Kaiser ins Exil trieben, das halbe Land verwüsteten und mit Bomben, Giftgas und Massakern Kriegsverbrechen vor allem an der Zivilbevölkerung begingen. Haile Selassie beobachtet aus der Ferne, vom idyllischen Kurstädtchen Bath im englischen Somerset aus und gerne beim Anhören des Schlussduetts von Verdis "Aida", wie seine Äthiopier daheim einen Guerilla-Krieg gegen die faschistischen Besatzer organisieren.

An der politisch-historischen Realität dieses völkerrechtswidrigen Feldzugs, des letzten kolonialen Eroberungskrieges in Afrika, ist Maaza Mengiste allerdings kaum interessiert. Als Dokumentarroman über den Abessinien-Krieg taugt das Buch nicht. Stattdessen fokussiert die Autorin ihren Roman auf zwei legendäre Ereignisse, die sie breit ausfabuliert. Erzählt wird, wie äthiopische Frauen zu den Waffen griffen und an der Seite der Männer gegen Mussolinis Invasionsarmee zu Felde zogen. Sie waren Köchinnen, Dienstmägde, Krankenschwestern, doch sie kämpften als Soldatinnen an der Seite ihrer Väter, Brüder und Ehemänner. Die Autorin stützt sich dabei auf lückenhafte historische Dokumente sowie auf mündliche Überlieferungen in ihrer Familie, wonach ihre eigene Ururgroßmutter, gerüstet nur mit dem museumsreifen Gewehr ihres Vaters, einem familiären Erbstück, als Soldatin in den Krieg gezogen sei.

Der Anblick des Phantom-Selassie begeistert die Krieger

So vage und dürftig die überprüfbaren Fakten zu dieser Kriegs-Episode sind, so frei erfunden ist das andere legendäre Ereignis im Zentrum des Romans. Demnach wurden die Guerilla-Kämpfer angefeuert durch eine Phantomgestalt, die ihnen voranritt. Sie glaubten, es sei der Kaiser selbst, aus dem Exil zurückgekehrt, der seine Krieger anführe und mit Kampfesmut beseele. So kommt, nach mehr als 300 umwegigen Seiten, die umständlich erzählte und gelegentlich läppische Romanhandlung endlich in die Gänge und der titelgebende Schattenkönig erstmals zu seinem schattenhaften Auftritt.

Entdeckt wird er von der Romanheldin Hirut, einem Waisenmädchen, das von der Dienstmagd im Haus eines kaiserlichen Offiziers zur Kriegerin mutiert ist und nun in der Miliz ihres ehemaligen Arbeitgebers kämpft. Ihr fällt die frappante Ähnlichkeit eines armen Bauern namens Minim (Nichts) mit der fragilen Gestalt Haile Selassies auf. Eine Kriegslist wird inszeniert: Dem Doppelgänger Minim wird der Bart getrimmt, er wird mit würdigen Kleidern ausgestattet und auf ein Pferd gesetzt. Immer wieder taucht er fortan unvermutet vor den Guerilla-Kämpfern auf und reitet bei ihren Angriffen von ferne voran.

Angriff abessinischer Soldaten im abessinisch-italienischen Krieg, 1935

Angehörige einer abessinischen Eliteeinheit bei einem Angriff auf Stellungen der Italiener.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Sein Anblick begeistert die Krieger. Das Gerücht kommt in Umlauf und verfestigt sich zur mythischen Erzählung, der Kaiser habe in Wahrheit sein Land und seine Landsleute nie verlassen. Sein leibhaftiges Erscheinen soll bestätigen, dass der Sieg zum Greifen nahe ist. Dem Schattenkönig wird versprochen: "Du wirst uns helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Um dich werden sich Geschichten ranken, die von Generation zu Generation weitererzählt werden."

Und tatsächlich zeitigt der Mythos des Kaisers reale Wirkung. Bald beteuern Dörfler von überallher, sie hätten den Kaiser im nördlichen Hochland gesichtet, wo er weitere Truppen sammle. Allein diese Gerüchte stärken den Zulauf zu den Reihen der Guerillas. Den gläubig entflammten Kriegern gelingt es schließlich, die Invasionsarmee zu vertreiben.

Für diese literarische Hommage an den Mythos Haile Selassie hat sich Maaza Mengiste einen ganz eigentümlichen, lyrisch hochgestimmten Legendenton zurechtgelegt, der sich gelegentlich zu antikisierendem Chorgesang aufschwingt. Eine der größten historischen Katastrophen Äthiopiens im 20. Jahrhundert wird weniger erzählt als vielmehr hymnisch beraunt. "Der Schattenkönig" ist kein historischer Roman, sondern eine märchenhafte Kriegs-Rhapsodie.

Maaza Mengiste: "Der Schattenkönig": Maaza Mengiste: Der Schattenkönig. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. dtv, München 2021. 576 Seiten, 25 Euro.

Maaza Mengiste: Der Schattenkönig. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. dtv, München 2021. 576 Seiten, 25 Euro.

Da die Autorin die tatsächlichen Grausamkeiten der Italiener in diesem Feldzug nicht völlig aussparen kann, verlegt sie sich auf einen Kunstgriff. Sie lässt diese Gewaltexzesse nur wie schattenhafte Erinnerungsfragmente an böse Träume aufscheinen. Überdies werden die Gräueltaten der Eroberer in der Figur eines einzigen ultra-schurkischen Bösewichts namens Oberst Fucelli personifiziert und konzentriert. Zum Ausgleich braucht es auch noch einen zweiten Italiener - den jungen jüdischen Soldaten und Fotografen Ettore Navarra, der für moralische Zerrissenheit und ambivalentes Taumeln zwischen Italien und Äthiopien zuständig ist.

Im großen Finale des Romans, vierzig Jahre später, in den letzten Stunden vor dem Militärputsch 1974, inszeniert die Autorin ein letztes Zusammentreffen des verliebten Ettore mit der Ex-Kriegerin Hirut in der Bahnhofshalle von Addis Abeba. Wer als Dritter hinzukommt, ist niemand anders als der greise Haile Selassie, verkleidet als zerlumpter Bauer, beim vergeblichen Versuch, abermals ins Exil zu flüchten. Jetzt geschieht die große Verschmelzung. In Hailes Selassies verwirrtem Kopf verschmilzt er mit der Opernfigur des äthiopischen Königs Amonasro aus "Aida". Und in Hiruts verwirrter Wahrnehmung verschmilzt der Kaiser mit seinem einstigen Schattenkönig, wird zu Minim, einem Nichts. Sie erkennt: Der eigentliche Schattenkönig ist das Kollektiv des äthiopischen Volks, das damals die Befreiung des Landes bewerkstelligte. Sie salutiert all diesen Schattenkönigen und begleitet den Kaiser, den lebenden Mythos, zum Palast zurück. Wo, wie der Leser, aber nicht der Roman weiß, ein Polster auf ihn wartet.

Maaza Mengistes realitätsenthobene Romanphantasie wirkt wie aus der Zeit gefallen. Vor dem Hintergrund des neuen Bürgerkriegs, den der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed, Friedensnobelpreisträger und entlarvter Gewaltherrscher, derzeit gegen die aufständische Provinz Tigray führt, erst recht.

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