Gedanken zu M. Night Shyamalans Film "Old":Die Zeit drängt

Old, von Shyamalan

Glück von geringer Haltbarkeit: Die Protagonisten von M. Night Shyamalans Film "Old".

(Foto: Universal Pictures)

Im Kinofilm "Old" leben die Menschen auf einer paradiesischen Insel. Dafür altern sie im Zeitraffer. Aber tun wir das nicht immer?

Von Philipp Stadelmaier

Später, am Abend, würde er sie wieder abholen kommen, verspricht der Fahrer seinen Gästen, die mitten im Wald aus dem Jeep steigen. Den Rest des Weges müssen sie alleine antreten: durch das eiserne Tor hindurch, dann weiter durch die Bäume und die enge Grotte. Dahinter liegt das Paradies. Kein Jeep der Welt kann bis dorthin fahren. Es ist nur fußläufig erreichbar.

In "Old", dem neuen Film von M. Night Shyamalan, der seit vergangener Woche auch deutsche Kinozuschauer verstört, ist das Paradies ein hoteleigener Privatstrand, gänzlich abgeschieden von allem, umgeben von einer hohen Felswand, dem brausenden Meer und strahlend blauem Himmel. Es wartet auf Menschen, die einen Erholungsaufenthalt in einem Südsee-Luxusresort gebucht haben. Und die Kulisse für den perfekten Urlaub ist nur die Umgebung für die Rückkehr existenzieller Fragen.

Shyamalan selbst spielt den Fahrer, der seine Figuren zum Strand chauffiert, als würde er Versuchskaninchen für ein Experiment vorbereiten. Denn das Paradies, so schön es sein mag, lässt die Körper der Erholungssuchenden - zwei Familien mit Kindern und zwei weitere Paare - rasend schnell altern. Eine Stunde wird zu mehreren Jahren, ein Tag zu einem ganzen Leben.

So lässt Shyamalan seine Zuschauer über eine grundlegende Frage meditieren, die diese mit den nach und nach zu Staub zerfallenden Körpern auf der Leinwand teilen: Wie gehen wir um mit dem Altern, der Endlichkeit, dem Sterben - als Individuen, als Gesellschaft? Und können wir miteinander solidarisch sein, wenn früher oder später jeder mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt ist?

Die Endlichkeit lässt sich nicht einfach austricksen. Tumore im Frühstadium wachsen plötzlich zu tennisballgroßen Klumpen an, wer mit Multipler Sklerose ins Wasser geht, wird tot zurück geschwemmt. Entkommen unmöglich: Handys funktionieren nicht, die Grotte lässt sich nicht mehr passieren, gegen die Meeresströmung lässt sich nicht anschwimmen. Entscheidungen müssen getroffen und alte Konflikte gelöst werden, nicht irgendwann später, sondern sofort, denn die Zeit rennt davon.

Die Zeit macht Druck in diesem Film. Eine Reaktion darauf ist Selbstoptimierung

Nun ist es nicht falsch, aber oft leicht dahingesagt, man solle seine begrenzte Lebenszeit "sinnvoll nutzen", bevor sie ausläuft, carpe diem und so weiter, für sich selbst und jene, die einem nahestehen. Beziehungen sind komplex, Verhältnisse zu Familienmitgliedern schwierig, die Verstrickung ins Arbeitsleben und soziale Verpflichtungen unvermeidbar. Überhaupt ist die Welt ein einziges Schlachtfeld und die eigene Psyche ebenfalls.

Man wird älter, macht Kompromisse, sieht zu, wie alte Träume und Ideale langsam ausbleichen. Lebenswege sind schneller vorgezeichnet, als man es wahrhaben will; mit Mitte dreißig noch einmal neu anzufangen ist etwas anderes als mit Mitte zwanzig. Die Zeit macht Druck, wie die Grotte, die die Figuren wieder zurück auf den Strand presst, zurück ins Altern wirft.

Eine Reaktion darauf besteht in der neoliberalen Ideologie der Selbstoptimierung und eines möglichst effizienten Zeitmanagements. Die Figuren bei Shyamalan sind Ärzte, Psychologen, erfolgreiche Rapper. Sie verdienen gut, können sich das Paradies leisten. Karrieren und Lebensläufe verschleiern jedoch den Umstand, dass alle irgendwann verschwinden: Immerhin wird man etwas erreicht haben, und der Weg des Zerfalls wird gepflastert sein von unzähligen Stationen eines beeindruckenden Lebenslaufs, der bis in Luxusresorts mit Privatstränden geführt hat.

Shyamalans Film zeigt auch, dass Altern, so sehr es alle betrifft, nicht für alle dasselbe heißt. Oft hängt es mit Vorstellungen darüber zusammen, wie Körper auszusehen haben. Eine junge Mutter schnauzt ihre Tochter beim Frühstück an, sie solle gerade sitzen, damit sie später nicht wie ein verkrüppeltes Tierchen ausschaue; sie selbst wirft sich am Strand für Instagram in Pose. Nun mag Instagram mit all den dort zur Verfügung stehenden Filtern und Retuschen helfen, die Spuren biologischen Alterns zu verwischen und dem eigenen Körper ein perfektes, von der Zeit gereinigtes Rollenbild aufzuzwingen.

Später macht Shyamalan, in einer äußerst grausigen Szene und mit der ihm eigenen Ironie deutlich: Insta-Filter halten vielleicht die Bilder frisch, aber nicht die Körper selbst. Die sind außerdem, so sie die entsprechende Hautfarbe haben, dem Risiko eines verfrühten Todes ausgesetzt. Unter Bedingungen weißer Paranoia und Gewalt sterben die schwarzen Personen im Film früher als die Weißen, die ihren Lebensabend im Kreis ihrer Kinder am Strand genießen dürfen. Ein weißer Arzt operiert einer anderen weißen Frau einen Tumor aus dem Bauch; kurz darauf geht er mit dem Messer auf einen schwarzen Rapper los, den er verdächtigt, für das seltsame Zeitphänomen verantwortlich zu sein.

Wir interessieren uns zu wenig für jene, die uns überleben werden

Die Welt des Films ähnelt unserer eigenen auch deswegen, weil sie sich ausschließlich aus zerbrechlichen, kranken, dementen Gestalten zusammensetzt. Alle Erdenbewohner brauchen Pflege, Heilung und Fürsorge - selbst der weiße Doktor, dessen Handeln ebenso von strukturellem Rassismus wie von schierer Demenz bestimmt wird, an der er erkrankt ist. Gerade diese Figur erinnert daran, wie schwierig Visionen von Gemeinschaft heute geworden sind. Mit Bezug auf den Vorgang des Alterns im Film könnte man von einem "Narzissmus der Lebenden" sprechen. Wir sind, als Lebende, ganz ins uns selbst verstrickt, in unser eigenes Leben und damit unsere eigene Endlichkeit. Weswegen wir uns zu wenig für jene interessieren, die uns überleben, für die Verletzlich- und Endlichkeit der anderen, und damit für jene Gemeinschaft von Endlichen - Lebenden, Toten, noch Ungeborenen -, der wir angehören.

Aktuell rücken Corona und die allgegenwärtige ökologische Katastrophe Fragen wie die nach unserer Endlichkeit stärker ins Zentrum denn je. Auch für jene Leute im Westen, für die die Gewalt in Bürgerkriegsgebieten oder an den europäischen Außengrenzen kaum mehr als der Lauf der "Tagesschau" sind, wird das Sterben präsenter. Die Endlichkeit von Körpern, den wir gerne in Krankenhäuser, Altenheime, Hospize verbannen, drängt ebenso zurück in die Öffentlichkeit wie bei Shyamalan auf die Leinwand. Sie ist längst ein kollektiver Problemfall. Wie die Filmfiguren leben wir in einem Wettlauf mit der Zeit, ob es sich nun ums Impftempo handelt oder dem Erreichen von Klimazielen. In Wahrheit altern wir alle gerade im Rekordtempo: Menschen, Ökosysteme, der ganze Planet.

Im rasanten Altern der Kinder entfaltet der Film eine ökologische Fabel, die auf eine bittere Pointe zuläuft: Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen, die Leidtragenden, die heute ungelöste Probleme mit Wucht abkriegen werden, von kollabierendem Schulunterricht und kollabierenden Familienmodellen in der Pandemie über Städte, die in Betonwüsten verwandelt werden bishin zur großen Klimakrise. In diesem Sinne übrigens sind die Fridays-for-Future-Demonstranten außergewöhnlich: sie verdrängen das Altern nicht, sondern haben früh ein Verhältnis dazu entwickelt. Auch weil sie weniger Zeit haben. Auch im Film ist auf die bereits Alten wenig Verlass: M. Night Shyamalan kehrt als Fahrer nie zum Treffpunkt zurück. Die Alten von morgen sind auf sich allein gestellt.

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