Lyrik:Himmlischer Frieden

LIAO YIWU - VILLA RIEDWIES MURNAU AM STAFFELSEE

Den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis wünschte sich Liao Yiwu als Ort für seinen Vortrag. Er fand ihn in Murnau.

(Foto: Christian Kolb)

Liao Yiwu trägt sein bewegendes Gedicht "Massaker" in Murnau vor

Von Sabine Reithmaier, Murnau

"Knallt sie ab, knallt sie ab. Keiner bleibt übrig. Liquidiert alles Schöne!" Ein Kind schreit entsetzt auf und beginnt zu weinen. Reagiert auf die explosive Stimmung genau so, wie es die Verse fordern, die Liao Yiwu wenig später flüstern wird. "Weine doch, weine doch, noch bist du nicht ausgemerzt." Die drastische Brutalität des Gedichts "Massaker" ist schwer auszuhalten, nicht nur fürs Publikum, auch für seinen Autor und Interpreten. Liao Yiwu ist hinterher nicht in der Lage, Fragen zu beantworten. "Die Erinnerung, die Erinnerung", sagt er. Sie hat ihn eingeholt an diesem sonnigen Nachmittag in Murnau.

30 Jahre ist sein Text alt, der um die Vorgänge auf dem Pekinger Tiananmen Platz kreist. Liao Yiwu hat das Gedicht, das sein Leben für immer veränderte, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 geschrieben. Tags darauf schlug die chinesische Regierung die Proteste auf dem Tiananmen Platz endgültig nieder, richtete ein Blutbad unter der Bevölkerung an. Über die Anzahl der Opfer ist man sich bis heute uneins, doch dürften es, so legten sich 2017 die National Archives von England fest, mindestens 10 000 Opfer gewesen sein.

Liao Yiwu, bis dahin ein unpolitischer, wenn auch bereits auf einer schwarzen Liste stehender Poet, schrie das Gedicht damals auf eine Tonbandkassette; die Kopien verbreiten sich rasant. Während er an seinem Film "Totenmesse" arbeitet, wird er im Februar 1990 verhaftet - ebenso seine schwangere Frau und die Filmcrew. Wegen "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda" verurteilt man ihn zu vier Jahren Gefängnis. Nach der Haft folgt die soziale Ächtung. Frau und Kind haben ihn verlassen, er hangelt sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten, schreibt trotz Publikationsverbots und zahlloser Schikanen weiter. Im Juli 2011 gelingt ihm die Flucht nach Deutschland. Seither lebt der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels in Berlin, protestiert in all seinen Werken gegen die politische Unterdrückung in seinem Land, begehrt auf wider das Vergessen. Auch in Murnau schreit und flüstert der 60-jährige Dichter seine Verse, allerdings vor einer fast absurd schönen Kulisse: die Villa Riedwies, 1903 von Emanuel von Seidl gebaut als Jagdhaus für die Löwenbräu-Besitzer Brey, steht vor einem überwältigenden Bergpanorama inmitten einer weitläufigen Parkanlage, darüber tiefblauer Himmel. Mehr Idylle geht nicht.

Vor der Veranstaltung spaziert Liao Yiwu durchs Gelände, taucht heiter lächelnd hinter Wegkurven auf, schüttelt Hände, begrüßt Besucher. Er selbst ist zum zweiten Mal in der Villa der Familie Speermann zu Gast. Den Kontakt hat Stephan Knies hergestellt, Freund der Familie und der Produzent und Dramaturg, der 2016 Liao Yiwus Roman "Die Kugel und das Opium: Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens' gemeinsam mit Johanna Marx in ein Theaterstück verwandelte und in Berlin aufführte. Vor eineinhalb Jahren verbrachte der Dichter mit seiner Familie den Jahreswechsel hier, war begeistert von der Landschaft, fand in dieser Umgebung seinen Frieden. Da er sich für die Rezitation seines Gedichts den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis wünschte, beschloss er, "Massaker", das wohl bekannteste künstlerische Zeugnis zu den blutigen Ereignissen, zum 30. Jahrestag hier aufzuführen.

Doch bevor er als Sprecher, Performer und Musiker, kongenial unterstützt von seinem Dolmetscher Peigen Wang, auf die Bühne tritt, müssen sich die in einem ehemaligen Zirkuszelt schwitzenden Besucher erst ein Fernsehporträt des Dichters ansehen, gefolgt von Filmbeiträgen aus der Theaterproduktion "Die Kugel und das Opium". Alles interessant, aber doch ein bisschen lang. Erleichterung also, als Felix Römer, Ensemblemitglied der Schaubühne Berlin, vier Briefe liest, die Liao Yiwu aus dem Untersuchungsgefängnis von Chongqing-Stadt an seine damalige Frau geschrieben hatte. Darin erzählt er, oft mit bitterer Selbstironie, von der Folter und den Erniedrigungen, die er ertragen muss. Und von anderen Menschen, die Ähnliches durchmachten, nur weil sie für die Freiheit auf die Straße gingen. Die chinesische Regierung hätte sehr gern, dass sie vergessen werden. Was für ein Glück, dass sie mit Liao Yiwu einen wortgewaltigen Fürsprecher besitzen.

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