Lyrik:Grillenflügel, Gezirp, Gezirp

Diese altchinesischen Lieder sind fast 3000 Jahre alt, die Sammlung ist klassisch. Nun hat Rainald Simon das gesamte altchinesische Liederbuch "Shijing" neu übersetzt, zum ersten Mal seit 1880.

Von Reinhard Brembeck

"Kwan . . . , kwan . . . : die Fischadler, / auf der Insel im Strom. / Anmutige, reine Frau, / ich, von edlem Geblüt, möchte mit euch zusammensein." Mit einem Naturlaut, einer Vogelschreiimitation, mit einer knappen Evokation von Fauna und Landschaft, in die sich schlagartig die Menschenwelt mit ungestümer Erotik mischt, so beginnt Chinas älteste und noch immer nicht nur dort begeistert gelesene Gedichtsammlung.

Dieses "Shijing" ist in Deutschland bekannt als "Buch der Lieder". Es gibt keine chinesische Lyrikanthologie, die nicht mit einer Auswahl daraus beginnen würde. Hier finden sich 305 alltagsrealistische, nie philosophisch verschwurbelte aber stets poetisch betörende Liedtexte, die Musik dazu ist schon lang verloren.

"Rotkronkraniche rufen im Sumpfland, / Rufe in der Wildnis zu hören. / Fische verborgen in Tiefen, manche im Kolk" (Lied 184). "Shi" bedeutet Gedicht, "jing" kanonischer Text. Von den Konfuzianern, die jahrhundertelang bis zum beginnenden 20.Jahrhundert die offizielle Staatsdoktrin für China lieferten, wurde das "Shijing" zu einem der "Fünf Klassiker" befördert. Deren im Westen berühmtester ist das weit über Esoterikkreise hinaus populäre Orakel-"Buch der Wandlungen", das "I Ging". Die Texte des "Shijing" beschreiben jedoch die vorkonfuzianische Welt der westlichen Zhou, die dreihundert Jahre lang bis 771 vor Chr. das nördliche China beherrschten, das Gebiet um den Gelben Fluss.

Typisch ist offene Kritik, auch an Kriegsdienst und Zwangsehe

"Man machte Hirsebräu, man machte Süßbier, / geopfert wird, dargebracht den Ahnen . . . " (Lied 279). Ahnenkult und Opferriten spielen hier eine große Rolle. Oft werden kurze Naturbilder eingeflochten, werben Frauen (vergeblich) um Männer und umgekehrt.

Typisch ist auch die offen formulierte Kritik an sozialen Missständen, dazu zählen Zwangsehe und Kriegsdienst. "Die Städter erfreuen sich keines Wohlstands, / Himmelsdämonen schlagen zu" (Lied 192). Diese Kritik im "Shijing" begründet eine Konstante in der chinesischen Literatur. Sie findet sich genauso bei Du Fu und Li Bai, den beiden größten Dichtern Chinas, wie in den legendären Romanen "Kin Ping Meh" und "Der Traum der roten Kammer" oder im Œuvre des Nobelpreisträgers Mo Yan.

"Wer sagt, der Gelbe Fluss ist breit? / In einer Nussschale ist er zu queren" (Lied 61). Im Gegensatz zu den Orakeln des "I Ging" und trotz der Vereinnahmung durch die Konfuzianer ist das "Shijing" auch ein grandioses Lesevergnügen: gerade in der vor Kurzem publizierten Neuübersetzung durch den 1951 in Marburg geborenen Sinologen Rainald Simon, der die erste vollständige deutsche Übertragung seit 1880 vorlegt. Herausgekommen ist dabei fast schon eine Prachtausgabe. Neben den Übersetzungen finden sich die Originale samt Pinyin-Umschrift, dazu knappe, nur selten den Leser gängelnde Kommentare. "Kalesche, rappelt, klappert, / sie im feinen Kleid, schilfsprossengrün. / Wie nicht an dich denken? / Ich fürchte, du wagst es nicht" (Lied 73). Simons Übersetzungen bewahren die strukturelle Fremdheit des Chinesischen, doch entwickeln seine dennoch unmittelbar zugänglichen Versionen einen sich schnell im Leserausch verlierenden Sog.

"Grillenflügel, / Gezirp, Gezirp: / Du solltest Söhne und Enkel haben, / Scharen, Scharen" (Lied 5).

Viele der 160 durch ihre melancholische Schlichtheit bestechenden Volkslieder sind dreistrophig. Manchmal wird dabei nur ein einziges Wort verändert. Wie bei dieser Strophe, die zweimal wiederholt wird und "Scharen" erst durch "Reihen", dann durch "Mengen" ersetzt. Kalligramm und Epigramm fallen zusammen. Etwas ferner für den Leser sind die gut einhundert und oft längeren Ritualgesänge sowie die knapp vierzig Hymnen, führen sie doch tiefer in Kult und Sozialsystem der Zhou. Da spielt die Ernte eine große Rolle, Politikerpreis und - kritik finden sich genauso wie Kriegs- und Sauflieder, Jagdszenen, Beglückwünschungen und Jahreszeitenbeschreibungen.

"Bedenke ich meine Einsamkeit, / ist der Geist Berge schwer, Berge schwer."

Lied 256 entwirft sogar eine grundlegende Ethik. Dazwischen aber lässt der Kernbeißer sein "Kog, kog" hören (215), Bier wird aus dem Nashornbecher getrunken, der Leser begegnet Besenrauke, Sorghum, Katalpe und Spitzklette.

Und zwischendurch lässt sich im Lied 192 ein frustrierter Beamter hören: "Bedenke ich meine Einsamkeit, / ist der Geist Berge schwer, Berge schwer. / Trauer - mein schwacher Geist, / vor Kummer, vor Sorgen krank."

Shijing. Das altchinesische Buch der Lieder. Chinesisch/Deutsch. Übersetzt und Herausgegeben von Rainald Simon. Reclam Verlag, Stuttgart 2015. 856 Seiten, 49,95 Euro.

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