Süddeutsche Zeitung

Debatte um Gedicht:Feministische Lyrik überschreibt patriarchale Kunst

  • Nach der Debatte um Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule soll das Werk nun überschrieben werden.
  • Der Gegenentwurf stammt von der feministischen Lyrikerin Barbara Köhler. Sie greift darin Elemente des alten Gedichts auf.

Von Marie Schmidt

Barbara Köhler hat ein Gedicht vorgelegt, das im Herbst an der Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin angebracht werden soll. Die Lyrikerin ist die 11. Preisträgerin eines von der Schule vergebenen Poetikpreises. Bislang stand an der betreffenden Wand das Gedicht "avenidas" des früheren Preisträgers Eugen Gomringer in spanischer Sprache, das insbesondere wegen seiner letzten Zeilen erbitterte Diskussionen ausgelöst hat: "Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer".

Eine unter anderem vom Asta der Hochschule vertretenen Lesart ordnete die Rollenverteilung zwischen dem männlichen Bewunderer und weiblichen Dingen und Menschen der "patriarchalen Kunsttradition" zu und forderte die Neugestaltung der Fassade. Die Hochschulleitung beschloss daraufhin, die Wand künftig alle fünf Jahre neu bespielen zu lassen. Kritiker der Entscheidung sprachen von "Zensur" des Gomringer-Gedichtes und protestierten gegen politische Lesarten eines Kunstwerks, das Anspruch auf ästhetische Autonomie genieße.

Eine Fotomontage, die auf der Website der Schule zu sehen ist, zeigt nun, wie sich die 1959 geborene Barbara Köhler als erste Neugestalterin die Wandbeschriftung vorstellt: Durch die fetten, dunkelgrauen Buchstaben des Gedichts, das sie zu diesem Zweck verfasst hat, schimmern in einer hellgrauen Type Gomringers Verse hindurch. Das Neue löscht das Alte also nicht - ein Palimpsest. Zudem werde, wie die Hochschule bekannt gibt, Gomringers Gedicht und ein Statement von ihm auf einer ein mal 1,4 Meter großen Edelstahltafel an der Fassade angebracht, zur Erinnerung.

Feministische Lyrik überschreibt patriarchale Kunst

Auch inhaltlich nimmt Köhler auf das ältere Gedicht Bezug. Während "avenidas" aus Substantiven bestand, schreibt Köhler in Verben. Weil diese aber in Versalien gesetzt sind, ist nicht zu erkennen, ob sie in der zweiten oder dritten Person Plural stehen: "SIE BEWUNDERN SIE / BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN: // SIE WIRD ODER WERDEN GROSS / ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO // STEHEN SIE VOR IHNEN / IN IHRER SPRACHE // WÜNSCHEN SIE IHNEN / BON DIA GOOD LUCK".

Offensichtlich handelt es sich hier um ein selbstreferenzielles Gedicht, in dem von Wörtern die Rede ist, die groß oder klein geschrieben werden können. Wer aber bewundert? Die Wörter? Oder gar ein vorübergehender Betrachter, lies: "Sie bewundern, Sie bezweifeln"? Es ist nicht zu entscheiden, Wörter und Leser stehen sich irgendwie uneindeutig gegenüber. Eine Andeutung von Gleichberechtigung mag man darin erkennen, sodass nicht zu sagen ist, wer auf welcher Seite steht, je nachdem ob es heißen soll: "stehen Sie vor ihnen" oder etwa "stehen sie vor Ihnen".

Barbara Köhler ist als feministische Lyrikerin bekannt. In ihrem Buch "Niemands Frau" (2007) versuchte sie zum Beispiel die weiblichen Figuren der Odyssee zum Sprechen zu bringen. In der Diskussion über Gomringers Gedicht hatte sie sich mit einem Beitrag zu Wort gemeldet, in dem sie über verschiedene Trägermedien und Rezeptionsbedingungen nachdachte. Wenn ein Stück Literatur haushoch angebracht werde, sei für den Leser "eine extreme Untersicht vorgesehen, dort wird das Buch-Verhältnis regelrecht verkehrt, man schaut zum Text auf, nicht nieder". Ein Text im öffentlichen Raum stehe immer in einer Beziehung zu den ihn umgebenden Menschen und ihren Interessen. Diese grüßt Köhler nun in ihren eigenen Versen freundlich mit "Bon dia", und zwar auf Katalanisch, der gegenüber dem Spanischen von Gomringers Gedicht auf ihre Eigenständigkeit pochenden Sprache. In der Weltsprache Englisch wünscht die Dichterin ihren Bewunderern zuletzt alles Gute.

Wer indes auf extreme Untersicht auf Eugen Gomringers "avenidas" nicht verzichten möchte, kann diese in Rehau in Oberfranken genießen, wo der Dichter wohnt. Dort hat man das Gedicht wieder an eine Hauswand gemalt.

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SZ vom 31.08.2018/cco/luch
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