Süddeutsche Zeitung

Lyrik:In der U-Bahn sitzen wir

Ein Gedicht-Bilderbuch für Kinder mit gelben Keksgedanken. Voller Klänge und Bildern, die eine Fantasiewelt zeigen.

Von Nico Bleutge

Erster sein wollen, kann ziemlich mühsam sein. Man muss dauernd rennen, um als Erster beim Kühlschrank zu sein, als Erster die Türe zu berühren oder als Erster zu essen. Kein Wunder, dass Michael Hammerschmid bei so viel Anstrengung das Erster-Sein-Wollen in einem seiner Gedichte ad absurdum führt und so wunderbar aushebelt. "wer als erster / einen vogel hört / wer als erster / den andern / nicht stört / wer als erster / als erster / wer als erster?"

Beim Lesen muss man natürlich gleich an Ernst Jandls berühmtes Gedicht "fünfter sein" denken. Darin geht es um einen Besuch beim Doktor - etwas, das eigentlich niemand so richtig mag. Doch Jandl gelingt es, die unangenehme Vorstellung mit ganz wenigen Wörtern und vielen Wiederholungen in ein äußerst spannendes Gedicht zu verwandeln. Der Dichter Michael Hammerschmid macht Ähnliches. Gerade einmal zwölf Gedichte umfasst das schön gestaltete Buch, doch die sind voller Klänge und Wiederholungen. Mal reiht Hammerschmid seine Ideen listenartig untereinander, mal versieht er sie mit Reimen und zeigt uns, dass "glänzen" und "schwänzen" oder "dreck" und "weg" ganz nah beisammen liegen können.

Die Gedichte drehen sich nicht nur um alltägliche Dinge wie Kastanien, Uhren oder Seifenblasen, sondern auch um das Größerwerden oder um die Angst vor dem Alleinsein. Hammerschmid hat ein gutes Gespür für kleine Verschiebungen in der Bedeutung oder für Lautspiele. Und er vermag es, mit seiner Sprache schöne Bilder zu schaffen. Menschen werden hier zu Bienen, und der Duft frischgebackener Kekse kann ein ganzes Haus verzaubern und sogar den Passanten draußen "süße gelbe keksegedanken" machen. Andernorts sitzen zwei in der U-Bahn - und finden schließlich ein Rezept gegen das Alleinsein: "in der u-bahn / sitzen wir / einer dort und / eine hier / aus dem fenster / schauen wir / eine dort und / einer hier / dann / setz ich mich / zu dir. / vielleicht sehen wir / ein tier? / vielleicht."

Nein, ganz bestimmt! In diesem Buch kann man Frösche, Giraffen, Krokodile oder Pinguine sehen, aber auch gewöhnliche Katzen und Mäuse. María José de Tellería hat ihre Bilder so angelegt, dass sie je eine Doppelseite groß sind und die Gedichte gleichsam umschließen. So muss man eigentlich von einem Gesamtkunstwerk sprechen. Auch weil die Illustratorin die Fantasiewelten der Verse fortspinnt. Auf dem Bild zu einem Meeresgedicht etwa kann man nicht nur Quallen und Fische im Wasser entdecken, die Fische scheinen zugleich hinter den Bullaugen eines großen Schiffes zu schwimmen. Und trägt einmal ein Gedicht einen etwas hochgestochenen Titel wie "die friedensbrücke", bricht María José de Tellería den hehren Anspruch einfach, indem sie die Brücke zu einem großen grauen Bären macht.

"wer als erster" ist ein Buch zum Vorlesen und zum Mitsprechen. Und ein sehr musikalisches Buch. Wie heißt es einmal? "auf den fels / sollte man hinauf / in die wiese / sollte man hinein / was am boden liegt / das hebt man auf / und ein lied / sollte gesungen sein". Dem kann man nur zustimmen.

Michael Hammerschmid: wer als erster. Mit Illustrationen von María José de Tellería. Jungbrunnen, 2022. 25 Seiten, 16 Euro.

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