Süddeutsche Zeitung

Lyrik-Band über Rassismus:Wichtig für den Fortschritt, aber schlecht für die Literatur

In "Citizen" beschreibt die amerikanische Lyrikerin Claudia Rankine schmerzhaft genau den Alltagsrassismus in den USA. Doch das Ergebnis ist identitäre Befindlichkeitsprosa.

Von Juliane Liebert

"Citizen" ist in vielerlei Hinsicht eines der Bücher der Stunde. Es ist Claudia Rankines fünfte Veröffentlichung, ein Prosagedicht mit essayistischen Einschüben und Passagen, die als Text zu einer Videoinstallation gedacht sind. Sie beschreibt darin sehr genau die Folgen eines den gesamten Alltag durchdringenden Rassismus, beschreibt, wie er die Menschen deformiert.

Der erste Teil des Buches erzählt eine Reihe von rassistischen Zwischenfällen: Die enge Freundin, die das lyrische Ich mit dem Namen der Haushälterin anspricht. Der Kollege, der sich beschwert, "der Dekan verlange, dass er eine POC einstelle, dabei gäbe es doch so viele talentierte Schriftsteller da draußen". Die Mitschülerin, die ihr sagt, ihr Gesicht habe "fast weiße Züge" und sie rieche gut.

Dieser gute Geruch zieht sich durch die Seiten, er taucht gelegentlich wieder auf, variiert, verschoben, er hält den Text zusammen, wandelt sich, wird zum Gestank. Später kommen andere Sätze hinzu, einer über unrechtmäßige Verhaftungen von Schwarzen etwa: "und du bist nicht ihr Mann, und trotzdem passt die Beschreibung, weil es nur einen gibt, der immer der Mann ist, auf den die Beschreibung passt"

Die Sätze wiederholen sich wie Schläge. Auf den einen folgt der nächste, und wieder der nächste, Rankine webt sie zu einem Netz, in dem der Leser sich verheddert, bis am Ende vor allem ein Gefühl bleibt: jenes der Ohnmacht, der Schwäche, der Aussichtslosigkeit. Die einzelnen Passagen bleiben schmerzhaft nah bei der Erzählerin; Ranking lässt der Verwundung Zeit, sich zu entfalten. Forscht ihren Folgen nach. Das ist ein extrem sensibles Thema, und wenige haben es so pointiert behandelt wie Rankine. Es läge nahe, sich begeistert auf die Frage zu stürzen: "Was macht Rassismus mit mir?"

Wenn die Ästhetik in den Dienst der Botschaft gestellt wird, kann sie nicht frei wirken

Genau das ist aber auch das Problem des Buches. Es ist das Belegbuch zur Theorie, ähnlich wie viele Betroffenenberichte über psychische Krankheiten, die zwar bewegend, aber literarisch uninteressant sind, weil ihre Autoren nicht merken, wie voreingenommen sie denken, indem sie alles durch die Diagnosebrille betrachten und ihre eigene Erfahrung nur zur Bestätigung psychiatrischer Kategorien nutzen. Man könnte das "dumme Reflexion" nennen: Es wird zwar fleißig analytisch durchdrungen, aber die Prämissen der eigenen Analyse werden nie mitreflektiert.

Vor allem ein literarischer Text braucht aber immer einen Mindestabstand zu bestimmten Wahrnehmungskonzepten — oder wenigstens einen Überschuss, der sich nicht einordnen lässt. Claudia Rankine hat zwar das Potenzial dafür, aber dadurch, dass die literarischen Qualitäten hier so vollkommen in den Dienst der Botschaft gestellt werden, können sie nicht frei wirken. Es funkt immer wieder eine Stelle dazwischen, bei der man sich fragt, warum sie nicht gleich "Dies ist eine weitere Mikroaggression" hinschreibt, anstatt mit Emopathos ihre Verletztheit zum 3902. Mal auszukosten.

Natürlich haben für Rankine - oder ihre literarische Figur - solche Erfahrungen noch mal eine andere Relevanz. Gerade weil das Thema so wichtig ist, bleibt das Unbehagen: Dass es sich im Grunde um eine mit literarischen Mitteln emotional gepeppte Fallbeispielsammlung zur vorherrschenden Rassismustheorie handelt - und weniger um Literatur aus eigenem Recht.

Das rührt zum einen von dem Ansatz her, Befindlichkeiten und eigene Interpretationen absolut zu setzen. Natürlich können sie eine Erkenntnisquelle sein, aber eben keine Wahrheitsquelle. Die Verhältnisse werden durch sie nicht offengelegt. Trotzdem wird Betroffenheit zunehmend nicht nur zum Wahrheits-, sondern auch zum literarischen Kriterium. Ganz davon abgesehen, dass diese Art der Betrachtung der Welt auch etwas wirklich Ödes hat. Zeitweise liest sich "Citizen" wie eine Checklist: Hier hat er meine Hautfarbe erwähnt - Check, Rassismus. Hier wurde Serena Williams kritisiert - Check, Rassismus. Das nimmt jenen Momenten im Buch die Kraft, in denen sich wirklich ein durch tief sitzende rassistische Stereotype bedingtes Ungleichgewicht zeigt.

Die aktuelle Tendenz in der postkolonialen Gesellschaftskritik ist, sich auf einen bequemen Kulturrelativismus zurückzuziehen, der auf der einen Seite um Selbstkritik kreist und der sich auf der anderen in Black-Panther-Fantasien ergeht. Es ist ja auch schwieriger, sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es das rein Gute in der Kultur nicht gibt. Die Brutalitäten und die Errungenschaften der europäischen Geistesgeschichte sind hier zwei Seiten einer Medaille. Aber eine Beethoven-Sinfonie wird nicht weniger großartig, weil es auch Sklaverei gegeben hat. Die Entdeckung des Individuums als eigenes Universum ist keine geringere Errungenschaft, nur weil es kapitalistische Ausbeutung gibt. Literatur sollte sich in diese Widersprüche stürzen, anstatt sich mit einem Betroffenheitston zu begnügen.

"Citizen" ist eines der Bücher der Stunde, aber zugleich ist es furchtbar langweilig. Die taz schrieb in ihrer Rezension: "Die Verletzung anerkennen, den Schmerz benutzen, um sich mit anderen zu verbinden - Trauerarbeit und Empowerment -, darum geht es in Rankines Text." Nun, für Trauerarbeit (schreckliches Psychologenunwort, im Übrigen) kann man zur Therapie gehen. Für Empowerment eine Aktivistengruppe gründen. Aber mit Literatur hat das nichts zu tun. Im Moment aber dominiert Identitäts-Opferbefindlichkeitsprosa. Das mag notwendig sein, um einen gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Literarisch ist es eine Sackgasse.

Claudia Rankine: Citizen. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Spector Books, Leipzig 2018. 14 Euro

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Quelle:
SZ vom 04.05.2018/khil/luch
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