Süddeutsche Zeitung

Lyrik:Aus der tonlosen Zeit

Uwe Kolbe singt "Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste". Sein Buch verweist auf eine lange Tradition innerhalb der klassischen Moderne. Es geht um das Ganze der menschlichen Existenz, um Bitte, Dank, Klage, Lob.

Von Johann Hinrich Claussen

Ein zeitgenössischer Dichter veröffentlicht ein Buch mit Psalmen. Ist das ein Skandal oder ein Wunder? Im Fall von Uwe Kolbe ist es schlicht eine gute Nachricht. Sein Buch verweist auf eine lange Tradition innerhalb der klassischen Moderne. Viele bedeutende Lyriker des 20. Jahrhunderts haben Psalmen geschrieben oder sich vom biblischen Psalter anregen lassen. Man denke an Bertolt Brecht, Georg Trakl, Paul Celan, Nelly Sachs oder Peter Huchel. Einige haben nicht nur einzelne Psalmen, sondern ganze Psalter verfasst wie zum Beispiel SAID (oder, wenn auch weniger überzeugend, weil zu sehr in den eigenen Lebensschmerz verliebt: der junge Thomas Bernhard). Auch Arnold Stadlers Psalmenübersetzungen wären zu nennen, stellen sie doch ein eigenständiges lyrisches Werk dar.

Uwe Kolbe ist ein belesener Lyriker, dessen Verse tiefe Wurzeln haben. Vor Kurzem hat er in einem Interview einige von ihnen aufgezählt: "Wo meine Sprache wurzelt ... in der Mutterzunge mit Dialekt, verballhornter Grammatik, drolligen Fehlern im Wortschwall einerseits und andererseits bei einer Internationale von Ägyptern, Griechen, Lateinern, Renaissance-Italienern und Angelsachsen, den Dichtern der französischen und mittelhochdeutschen Versepen, Bibelübersetzern und all denen, die ihnen bis heute nachfolgen." Die Bibel war für ihn also immer schon mit dabei, jetzt macht er sie direkt zum Thema. Das ist ebenso ein Zeichen für Traditionsbewusstsein wie ein unerschrockener Akt der Freiheit. Offenkundig hat Kolbe keine Angst davor, von Kirchen vereinnahmt oder im Kulturmilieu verachtet zu werden. Er kennt nicht die schon von W. H. Auden verspottete "Prüderie der Gebildeten, für die theologische Begriffe weitaus schockierender sind als jedes Schimpfwort".

"Ich fand mich wohl toll / in meiner schwarzen Weste, / den Fleck meiner Sehnsucht, ..."

Was aber zeichnet Psalmen eigentlich aus - und was macht Kolbe daraus? Die biblischen Psalmen versuchen in vier Formen, das Ganze des menschlichen Lebens vor Gott auszusprechen: Bitte, Dank, Klage, Lob. Dazu bedienen sie sich starker Sprachbilder und einer eigentümlichen Technik der Wiederholung. Beides zusammen erzeugt einen Sog, der auch Jahrhunderte später noch Leser mitten in das "Ich" oder "Wir" dieser archaischen Verse hineinziehen kann. Kolbes Verse gehen ebenfalls aufs Ganze der menschlichen Existenz und deshalb über sie hinaus. Allerdings ahmt Kolbe die biblischen Worte und Bilder nicht nach. Er macht es eher wie ein Jazzmusiker: Er verwandelt traditionelle Standards in heutige Musik, nimmt die alten Melodien und Themen auf, vertraut ihrer Lebendigkeit, gibt ihn aber einen neuen Rhythmus, verwebt sie mit zeitgenössischen Tönen, spielt sie auf modernen Instrumenten. So singt Kolbe in seinen Psalmen von Morgen und Abend, Angst und Vertrauen, Sorgen und Gewissenszweifeln, von "Abgrund und Glück" - mal im hohen Ton, mal schnodderig, mal erstaunlich nah am Original, dann wieder auf ungewohnten Fährten, verzweifelt oder beglückt oder gelassen.

Kolbe unterscheidet von den Psalmisten des Alten Testaments natürlich, dass er keine unbefragte Gottesgewissheit vorweisen kann. Was er vorlegt, sind "Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste", wie er in der Einleitung schreibt, "Lieder nach alter Art", Gebete vielleicht oder auch nicht, jedenfalls "keine von der sicheren Seite gesprochenen". Und trotzdem spricht er zu "Gott", als könnte er gar nicht anders. Zum Beispiel in dem - wenn das hässliche Wort gestattet ist - programmatischsten Gedicht, einem "Psalm nach der tonlosen Zeit": "Ein Lied ohne Gott ist tonlos, / es langweilt sich bei sich selbst, / und seine Sänger schlafen ein. / Dem Lied ohne Gott fehlt Gott, / das geistlose hat keinen Geist. / Mein eigenes Schwadronieren, / gottloses Wort, das ich sagte, / betrog all jene, die hörten. / Ich fand mich wohl toll / in meiner schwarzen Weste, / den Fleck meiner Sehnsucht, / von der mein Gesang ging, / ein sprachloses Sprechen, / ein Fragen von Anfang hohl. / Das Lied ohne dich ist tonlos, / Herr, dies ist mein Psalm."

"Gott" ist für diesen Dichter von Interesse, aber in einem tieferen Sinn - nicht als geborgter Intensitätsverstärker, auch nicht als Requisit eines antimodernen Chic. Er benutzt dieses Wort nicht, erhebt auch keine Besitzrechte darauf. Dafür ist es ihm zu fraglich, aber auch zu wertvoll: "Ich hoffe nicht, glaube nicht, rufe nur deinen Namen." Im schon erwähnten Interview spricht Kolbe davon, wie lang dieses Wort ihn schon begleitet, ohne dass er es sich wirklich zu eigen hätte machen können: "Als Gegenüber hat mein Gedicht ja immer wieder auch Gott, aktuell ausdrücklich in den 'Psalmen'. Nur ist dessen Resonanz so langwellig, man müsste ein Ozean oder ein Planet sein, um sie zu fühlen."

Leseprobe

Einen Ausschnitt aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

"Langwelligkeit" - damit könnte man auch die Qualität von Kolbes Psalmen beschreiben. Es sind Gedichte, die sich viel Zeit nehmen, die in seltener Ernsthaftigkeit ihrer Sache auf den Grund gehen, dabei aber frei bleiben, ihr künstlerisches Spiel trieben, sich nicht festzurren lassen und deshalb lange Wellen schlagen. Dichten kann auch heißen, mit Worten zu schweigen, um so einen weiten Raum zu eröffnen, in dem eigentlich Unsagbares zu Wort kommen kann.

Das klingt aufregend, anregend, aber auch sehr anspruchsvoll. Und doch enthält dieses Buch viele überraschend einfache und schöne Gedichte wie zum Beispiel diesen Morgenpsalm: "Wo fange ich an, / wohin mit den Augen, / den Blick aufzuheben // zu deinem Morgen / zu nehmen den Weg, / wo führt er mich hin, // hinaus aus der Irre? / Noch singe ich nicht, / ein Stammler der Liebe, // ich bitte dich, lasse / mich sehen den Weg / und singen dein Lied."

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Quelle:
SZ vom 24.10.2017
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