Kunst:Der mystische Ingenieur

Kunst: Ein Schlüsselwerk, obwohl vom Künstler verworfen und unvollständig erhalten: "An der Seine", 1912.

Ein Schlüsselwerk, obwohl vom Künstler verworfen und unvollständig erhalten: "An der Seine", 1912.

(Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt / VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Zum 150. Geburtstag kann man in Quedlinburg den ganzen Künstler Lyonel Feininger erleben - und in Weimar mit ihm aufs Fahrrad steigen.

Von Burkhard Müller

In diesem Jahr wird der 150. Geburtstag des Malers Lyonel Feininger begangen, und aus diesem Anlass gibt es in seiner mitteldeutschen Wahlheimat gleich zwei Ausstellungen, die ihn ehren, eine in der Quedlinburger Feininger-Galerie und eine im neuen Bauhaus-Museum in Weimar. Seiner Wahlheimat: Denn ursprünglich stammte der am 17. Juli 1871 geborene Feininger aus New York City. Doch schon als ganz junger Mann machte er sich allein auf nach Deutschland, erst für ein Musikstudium, aber bald schon merkte er, dass ihm die bildende Kunst noch mehr lag. Er lernte das Zeichnen, eine rasche, witzige, skurrile Art zu zeichnen, die ihn als Mitarbeiter für die "Lustigen Blätter", "Ulk" und andere illustrierte deutsche Blätter empfahl, aber auch für den damals gerade neu entstehenden Comic in Amerika.

1919 bot ihm Walter Gropius, der Leiter des soeben in Weimar gegründeten Bauhauses, dort eine Stelle als Lehrer an. Es war dasselbe Jahr, als man am selben Ort die neue deutsche Verfassung beschloss, der Gründungsakt der Weimarer Republik. Noch in den Zwanzigerjahren freilich musste das Bauhaus unter dem Druck der rechtsgerichteten thüringischen Landesregierung nach Dessau ausweichen. In Dessau bekam Feininger eines der dortigen "Meisterhäuser"; aber 1933 war es auch damit zu Ende, 400 von Feiningers Werken flogen aus deutschen Museen als "entartete Kunst". Erstaunlich spät, erst 1937, ging er mit seiner jüdischen Frau Julia nach New York zurück, wo er im Alter noch internationalen Ruhm erlangte und 1956 mit 84 Jahren starb.

Zwischen Glas und Eisen wird der Geist eingefangen

Die beiden Museen, die Feininger zeigen, tragen sehr verschiedenen Charakter. Die Stadt Quedlinburg, mit ihrem mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Weichbild aus Fachwerkhäusern, hätte Feininger bestimmt gefallen. Aber er war dort nie. Dass sich ausgerechnet hier das einzige ihm allein gewidmete Museum befindet, verdankt sich Feiningers von hier stammendem Schüler, Freund und Sammler Hermann Klumpp. Klumpp übergab seine Sammlung 1986, noch in DDR-Zeiten, einem neu zu gründenden Museum. Und die DDR, so zwiespältig ihr das aus territorialen Gründen zugefallene Bauhaus-Erbe erscheinen mochte, nahm an. Nach der Wende wurde ein Neubau mit viel Glas und Eisen errichtet, der Feiningers Geist einfängt.

Quedlinburg führt drei Bestände zusammen: seinen eigenen, der sich im Kern dem Sammler Klumpp verdankt, aber seither erweitert wurde; den Besitz des Museums Moritzburg im nahen Halle; und die bisher weitgehend unbekannte Sammlung Armin Rühl. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, den ganzen Feininger kennenzulernen, von seinen Anfängen um die vorletzte Jahrhundertwende bis zum Schluss.

Die politischen Karikaturen sind da, mit denen es losgeht, Otto von Bismarck als Schlachtschiff mit Nasenring zum Beispiel. Dann die faszinierenden, gespenstisch aus allen Proportionen ausbrechenden Figuren seiner "Mummenschanz"-Zeit mit ihren riesigen Mänteln und Hüten, umtriebig unterwegs in schluchtenhaften Städten mit schwindelerregenden Viadukten. Dann der Übergang in die "prismatische" Phase, wo er die Objekte geometrisch zerlegt und noch Himmel und Meer zu Facetten geschliffen werden. Feininger macht sich alle klassischen Techniken zu eigen: die Federzeichnung, wo die Linien, eng gestrichelt wie ein Gefieder, sich mit zarten Pastelltönen füllen; das feine Korn der Lithografie, die weiche Kontur der Radierung, den energischen Holzschnitt. Und schließlich auch das Ölgemälde, bei dem er einige Zeit zu ringen hat, bis er auch diesem für ihn anfangs zu behäbigen Verfahren die seiner Kunst gemäßen Möglichkeiten entbindet.

Das vielleicht interessanteste einzelne Werk ist "An der Seine", ein Gemälde von 1912. Es war vom Künstler verworfen worden und hatte lange als Windabdichtung in einer Gartenlaube gedient, ehe es vor einigen Jahren wieder auftauchte. Seine Entstehungs- ist nicht weniger fesselnd als seine Überlieferungsgeschichte. Es fällt mitten in eine Epoche künstlerischer Transformation; Feininger hat es wiederholt nachbearbeitet und dabei nicht nur die farblichen Verhältnisse völlig geändert, sondern auch das obere Viertel mit seinem kleinteiligen Hintergrund abgeschnitten und die anekdotische Fülle der Figuren und Geräte - eine Szene am Fluss, wo Sand und Pflastersteine für die Straßen von Paris aus einem Lastschiff ausgeladen werden - radikal gelichtet. Wie es ursprünglich aussah, geht aus einer Fotografie hervor. Erhalten geblieben sind jedoch die Schiffe und die große steinerne Brücke, die immer noch in ihrer massiven Körperlichkeit fortdauern, aber sich nunmehr ganz der farbig-flächigen Komposition unterordnen müssen.

Achtung vor den Gegenständen bewahrt vor übertriebener Abstraktion

Lyonel Feininger hat gerade in dieser Zeit die Pariser Kubisten gesehen; doch was er daraus macht, ist etwas ganz anderes. Wenn an den Bildern von Picasso und Braque öfter die Willkür verdrießt, mit der sie aus ganz normalen Alltagsdingen ein Tohuwabohu wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer machen, meist in recht unfrohen Farben, so bleibt bei Feiningers kristallinen Metamorphosen immer sichtbar die Notwendigkeit der Form erhalten. In den vielflächigen oder geschwungenen Blöcken glüht ein inneres Licht, und doch ist das Schiff klar ein Schiff und die Brücke eine Brücke.

Dieselbe Achtung vor den Gegenständen bewahrt Feininger auch, anders als etliche seiner Zeitgenossen, vor den Faxen der Abstraktion. So steht er inmitten der ganzen großspurigen Ismen der Klassischen Moderne als eine unverwechselbare Erscheinung, eine Art von mystischem Ingenieur. Selbst Verstümmelung und Verwerfung tragen aus der heutigen, nachgeborenen Sicht zur Qualität des "Seine"-Gemäldes bei; man vermisst das abhandengekommene obere Viertel so wenig wie die Arme der Venus von Milo, und die teilweise mit dem Spachtel weggekratzten, schattenhaft gewordenen menschlichen Figuren vertiefen das Geheimnis dieses Bildes mit seinem schönen, dünnen, wüstengelben und oasenblauen Farbauftrag.

Kunst: Auf Motivsuche: Lyonel Feininger auf seinem Fahrrad in der Gutenbergstraße in Weimar, 1926.

Auf Motivsuche: Lyonel Feininger auf seinem Fahrrad in der Gutenbergstraße in Weimar, 1926.

(Foto: The Estate of T. Lux Feininger mit freundlicher Genehmigung von Conrad Feininger)

Das Weimarer Bauhaus-Museum hat sich, anders als Quedlinburg, nur einen kleinen Ausschnitt von Feiningers Œuvre ausgesucht, aber einen, der als Angelpunkt des ganzen Werks gelten kann: "Lyonel Feininger mit dem Fahrrad unterwegs". In Weimar hatte Feininger schon 1906 seine spätere Ehefrau Julia, die damals an der Kunstgewerbeschule studierte, kennengelernt; und so oft, wie er konnte, schwang er sich aufs Rad, damals noch ein neues und etwas klappriges Verkehrsmittel, und erkundete die Dörfer des Thüringer Umlands, mit ihren Fachwerkhäusern und Kirchtürmen. "Sie haben so viele Dörfer!", schrieb er voll Begeisterung. "Die Dörfer sind so alt, sind so verlassen, und meistens so auf hügeligem Gelände gebaut, dass es unglaublich feine Stellen gibt, Motive, die mich beglücken."

Die Thüringer Fahrrad-Skizzen lieferten ihm noch in New York seine Motive

Rasch, gewissermaßen fliegend, fertigte Feininger seine Bleistiftskizzen an und heftete sie in Aktenordner ab (die kleinen Blätter sind alle gelocht). Die Skizzen, die damals entstanden, versorgten ihn noch auf Jahrzehnte, nachdem Thüringen ihm unzugänglich geworden war, mit Stoff für seine Bilder. Auch als er schon längst wieder in New York war, kam er immer wieder auf den Kirchturm von Gelmeroda zurück, während die Hochhäuser in Manhattan, die diesen Turm doch überragen mussten wie Bäume einen Waldpilz, ihm offenbar ungleich weniger sagten.

Kunst: So zeichnete Feininger 1913 auf einer seiner Touren den Kirchturm von Gelmeroda, auf den er später immer wieder zurückkam.

So zeichnete Feininger 1913 auf einer seiner Touren den Kirchturm von Gelmeroda, auf den er später immer wieder zurückkam.

(Foto: Klassik Stiftung Weimar / VG Bild Kunst, Bonn 2021)

Beide Ausstellungen haben, was kaum überrascht, in ihr Zentrum ein Fahrrad gestellt. Nicht das Original, von dem ist nach mehr als hundert Jahren nichts übrig, aber doch je ein ähnlich altes Modell, schnittig und asketisch, ohne Gepäckträger, ohne Gänge, ohne Licht, alles Dinge, die Feininger für entbehrlich hielt. Beide Räder wirken, als wären sie ein Stück von ihm selbst.

Becoming Feininger. Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg, bis 9. Januar 2022. Bauhaus und Natur: Lyonel Feininger mit dem Rad unterwegs, Bauhaus-Museum Weimar, bis 1. August.

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