Koloniale Raubkunst: Das neue Buch von Götz Aly:Unmögliches Exponat

Koloniale Raubkunst: Das neue Buch von Götz Aly: Das Luf-Boot vor der Handelsstation von Hernsheim & Co. auf Matupi, 1903. Wenig später wurde es nach Berlin transportiert.

Das Luf-Boot vor der Handelsstation von Hernsheim & Co. auf Matupi, 1903. Wenig später wurde es nach Berlin transportiert.

(Foto: Richard Parkinson/Staatliche Museen zu Berlin)

Ein weltweit einmaliges Auslegerboot aus Papua-Neuguinea soll eine der Hauptattraktionen im Berliner Humboldt-Forum werden. Der Historiker Götz Aly erzählt in seinem neuen Buch, wie es geraubt wurde. Die Restitutionsdebatte geht in eine neue Phase.

Von Jörg Häntzschel

In der Nacht vom 28. Mai 2018 fuhr ein Schwertransport über den Potsdamer Platz. Auf der Ladefläche, verpackt in einer 20 Meter langen Kiste, ein einmaliges Wunderwerk der Menschheitsgeschichte: das reich verzierte Auslegerboot von der Insel Luf im heutigen Papua-Neuguinea. Generationen von Schulkindern haben es im Ethnologischen Museum in Dahlem bewundert. Nun war es auf dem Weg ins Humboldt-Forum, wo es ebenfalls eine der Hauptattraktionen sein wird. Mit 16 Metern ist das Boot so riesig, dass es nur durch ein frei gehaltenes Loch in der Fassade ins Stadtschloss passte. "Ahoi, liebes Luf-Boot!", grüßte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) auf ihrem Blog.

Das Luf-Boot taugt so gut als Werbeträger für Deutschlands neues Parademuseum, weil es aus der Südsee stammt. Von den Kolonien in Afrika und vom Kunstraub dort hat man in den letzten Jahren viel gehört. Das "Schutzgebiet" Deutsch-Neuguinea, das sich über 3000 Kilometer im Pazifik erstreckte, kam kaum vor. Dort, so der vage Eindruck, ging es menschlicher zu.

Um ganz sicherzugehen, wurde das Luf-Boot vor dem Umzug nicht nur "entwest", also von Ungeziefer befreit, sondern auch moralisch gereinigt. SPK-Präsident Hermann Parzinger beteuerte, es sei "erworben" worden, keine Raubkunst also. Die B.Z. dichtete: "Alles im Lot mit dem Boot".

Lesung GER Berlin 20170425 Lesung mit Götz Aly Buchvorstellung Europa gegen die Juden deutscher

Bisher vor allem als Holocaust-Forscher bekannt: der Historiker Götz Aly.

(Foto: Gerhard Leber/imago)

In seinem an diesem Montag erscheinenden Buch "Das Prachtboot" entlarvt der Historiker Götz Aly nicht nur die Geschichte vom "Erwerb" des Boots als unhaltbar. Er erzählt auch, wie die Deutschen die Bewohner der Hermitinseln im Bismarck-Archipel, deren größte die Insel Luf ist, töteten, vergewaltigten und zur Zwangsarbeit auf den Kokosplantagen verschleppten. Kein Wunder, dass das Boot so einzigartig ist. Die Deutschen haben das Boot gerettet, aber mit ihrem "indirekten Völkermord" (Aly) die Kultur der Inselbewohner ausgelöscht.

Zum Buch von Götz Aly

Zwangsarbeiter schälen unter Aufsicht eines Polizeisoldaten die Kopra aus den Kokosnüssen.

(Foto: Aus dem besprochenen Band)

Aly ist mit seiner Forschung zum Holocaust bekannt geworden. Dass er sich jetzt erstmals der Kolonialzeit zugewendet hat, ist nicht nur der Debatte der vergangenen Jahre geschuldet, sondern hat auch familiäre Gründe. Sein Urgroßonkel, Gottlob Johannes Aly, war als Militärpfarrer bei der deutschen Kriegsmarine und wirkte in den 1880er-Jahren an der Unterwerfung der Inseln im Bismarck-Archipel mit. Eine von ihnen heißt bis heute Aly.

Vor der Ankunft der Europäer führten die Bewohner der Inseln ein Leben, das man versucht ist, paradiesisch zu nennen. Meer und Vegetation boten ihnen Nahrung im Überfluss. Sie kannten keine Schrift, aber hatten eine hochentwickelte Kultur mit Festen, Tänzen, Ritualen, Kunst. Und sie bauten - ohne einen einzigen Nagel - riesige, üppig verzierte, hochseetaugliche Boote, mit denen sie enorme Distanzen zurücklegten. Das Luf-Boot fasste 50 Personen.

Die Inselbewohner wurden als kostenlose Arbeitskräfte missbraucht

Diese Hochkultur der "Primitiven" sprengte die Kategorien der frühen Ethnologen. Die Inselbewohner seien zu begreifen "als Kinder, die sie sind und immer bleiben werden", attestierte ein Tropenarzt. Für den Forscher und späteren Museumsdirektor Felix von Luschan waren sie hingegen lebende Beweise, "dass es nirgends eine Grenze gibt, die sie (die ,Naturvölker') scharf und sicher von den ,Kulturvölkern' scheidet."

Die deutschen Unternehmer sahen in den Inselbewohnern vor allem kostenlose Arbeitskräfte. Sie fingen sie ein, dann ließen sie sie auf den Plantagen Kopra produzieren, das getrocknete Kokosfleisch, aus dem Fett und Seife gemacht wurde. Die meisten der Zehntausenden Arbeitssklaven sahen ihre Heimatinseln nie wieder. Sie starben an Erschöpfung oder an den eingeschleppten Krankheiten.

Im deutschen Kolonialsystem besaßen Plantagenbesitzer und Händler Exekutivrechte wie sonst nur der Staat. Erlaubt waren "körperliche Züchtigung" und "Einsperrung mit oder ohne Ankettung". In Wahrheit, so Aly, machten die Deutschen mit den "Eingeborenen" aber, was sie wollten. Und nicht nur das. Fühlten sie sich bedroht, kam die Kriegsmarine.

So auch 1882. Der Hamburger Unternehmer Eduard Hernsheim, einer der größten Player im Pazifik, hörte von einem angeblichen Überfall auf seine Handelsstation auf Luf. Untertänigst bat er Bismarck deshalb um "häufigeren Besuch" deutscher Kriegsschiffe. Bismarcks Strafexpedition erreichte die Insel an Weihnachten. Obwohl die rund 400 Bewohner keine Gegenwehr leisteten, töteten die Soldaten etwa die Hälfte von ihnen und brannten alle Häuser und Schiffe nieder.

20 Jahre später besuchte der damalige Direktor von Hernsheim & Co, Max Thiel, die Insel. Die überlebenden Lufiten hatten ein neues Bootshaus und ein neues, großes Boot gebaut. Für Hernsheim war der Handel mit geplünderten "Kuriositäten" von den Inseln ein wichtiger Geschäftszweig neben den Plantagen. Er wusste, dass Luschan, inzwischen Leiter der Ozeanien-Abteilung im Berliner Völkerkundemuseum, außer Schädeln nichts so liebte wie Schiffe. Er schaffte das Boot von der Insel und verkaufte es ihm für 6000 Mark.

Doch was bekamen dessen Erbauer? Hernsheim selbst erklärte nur, das Boot "ging in meine Hände über". Belege gibt es weder für einen Kauf noch für einen Raub. Aly ist sich dennoch sicher, dass Thiel das Boot den Inselbewohnern "im Vollgefühl kolonisatorischer Allmacht" "einfach weggenommen" hat.

Zum Buch von Götz Aly

"Ein frohes geselliges Leben herrschte damals im Bismarck-Archipel", erinnerte sich der Kolonialarzt Wilhelm Wendland (auf der Kutsche, 1906).

(Foto: Aus dem besprochenen Band)

"Ist das Boot geraubt worden?", fragte der Pressesprecher des Berliner Museums die Ozeanien-Kuratorin Dorothea Deterts in einem (inzwischen gelöschten) Blogeintrag auf der Website der SPK. "Über die genauen Umstände des Erwerbs hat Max Thiel nicht berichtet", antwortet sie. Schon ist aus dem möglichen Raub wieder ein "Erwerb" geworden. Dabei hat der Sammler Richard Parkinson in einem Brief an das Völkerkundemuseum schon 1904 geklagt, die Firma Hernsheim habe benachbarte Inseln "rattenkahl absammeln lassen; es ist ein ethnographischer Raubzug, wie ich ihn noch nicht gesehen habe".

Ihre Behauptung, das Boot sei rechtmäßig "angekauft" worden, stützt das Berliner Museum mit einer alten Legende: Die Insulaner hätten ohnehin keine Verwendung mehr für das Boot gehabt, "denn aufgrund des Bevölkerungsrückgangs konnten die verbliebenen Männer es nicht zu Wasser lassen", so Parzinger. Auf Wikipedia ist sogar zu lesen, die Lufiten hätten sich "verpflichtet", "keine Kinder mehr zu bekommen und auszusterben". Die Geschichte geht, wie Aly belegt, auf den irischen Händler Jimmy Devlin zurück, der sie "beim Glase Bier und Gin" dem Malariaforscher Otto Dempwolff aufgetischt hatte. Zurück in Berlin hielt Dempwolff Vorträge über diese "freiwillige Selbstvernichtung eines Volkes infolge bewussten Erlöschens ihres Lebensmuts". Obwohl Devlin später zugab, Dempwolff "gehörig angelogen" zu haben, obwohl der Ethnologe Augustin Krämer feststellte, "Rassenselbstmord liegt nicht vor", war das Seemannsgarn zu Wissenschaft geadelt und wird bis heute kolportiert.

Die Vertuschungen und Lebenslügen der Museumswelt kommen ans Licht

Bis vor wenigen Jahren fragte kaum jemand, woher die alten Sachen in den "Völkerkundemuseen" stammten. Das änderte sich erst, als sich die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy die Vertuschungen und Lebenslügen dieser zu lange abgeschotteten Welt vornahm. Wenn mit Aly nun ein Historiker die Türen zu den Inventaren und Archiven aufstößt, ist der Effekt ebenso erschütternd. Erschüttert ist auch Aly selbst: über die Geschichte des Boots wie auch über die zweifelhafte Frühphase der Ethnologie. Die Museumsleute kauften im großen Stil bei skrupellosen Plünderern ein. Sie wirkten an den "Völkerschauen" mit. Sie hatten teils Karrieren wie Franz Emil Hellwig, der sich als "Wildschweinjäger, Fabrikbesitzer, Hausierer, Uhrmacher" versucht hatte, bevor er - aus der Südsee zurückgekehrt - Kurator im Hamburger Völkerkundemuseum wurde. Schon damals mokierten sich Wissenschaftler über den "methodisch unfertigen Zustand der Ethnologie" und die "sinnlose Anhäufung von Gegenständen, besonders ... aus unseren Kolonien".

Und dann ist da noch die Vorarbeit, die Ethnologen und Anthropologen für die Rassenlehre leisteten: Überschwänglich dankte der Freiburger Anatom Eugen Fischer etwa für die "Liebenswürdigkeit", dass ihm, gleich nach der Hinrichtung ihrer Besitzer, zwei "Papuaköpfe" in "Formol" geschickt wurden. Bernhard Meyer vom Ethnographischen Museum in Dresden bettelte um "Menschenschädel" und "ganze Skelette", auch "aus Gräbern".

Das alles wissen die Museumsleute, sie sitzen ja bis heute auf den Schädeln, aber da sie außer Wissenschaftlern auch Kulturpolitiker und Wettbewerber um Publikum und Geld sind, tun sie alles, um ihrer Disziplin und ihren Häusern rückwirkend den Anstrich von Seriosität zu geben. Ausgerechnet die Digitalisierung, die die "Transparenz" fördern soll, dient zur Weißwaschung der Inventare. Die meisten Museen stellen nur einen Teil der Informationen zu jedem Objekt online, viele Angaben sind verfälschend. Kommandanten von Kriegsschiffen laufen dort als "Sammler", Kriegsschiffe werden nicht als solche klassifiziert, und Massaker mit vielen Toten wie das auf Luf gelten als "Expeditionen".

Koloniale Raubkunst: Das neue Buch von Götz Aly: Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 240 Seiten, 21 Euro.

Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 240 Seiten, 21 Euro.

Zuletzt wurde viel über Kunstraub, aber wenig über die viel größeren Kolonialverbrechen gesprochen. Aly zeigt, dass diese beiden Sphären nicht zu trennen sind. Und er weitet den Blick von Afrika auf den Pazifik und vom bloßen Diebstahl von Objekten auf die Auslöschung ganzer Völker und ihrer Kulturen. Mit seinem bestürzenden Buch beginnt eine neue Phase der Debatte.

Deutschland steht kurz davor, die Benin-Bronzen an Nigeria zu restituieren. Ohne das Rückgabeversprechen wäre das Humboldt-Forum vom ersten Tag an unglaubwürdig gewesen. Mit Alys Buch ist das "liebe Luf-Boot" nun ein ebenso unmögliches Exponat geworden. Die Leute, die es nach Berlin brachten, sind verantwortlich für den Untergang eines Volks und seiner Kultur. Aly träumt schon vom nächsten Berliner Mauerfall, dem Fall der Mauer des Stadtschlosses. Er wäre nötig, um das dort eingemauerte Boot aus seiner Zelle zu holen.

Zur SZ-Startseite
Benin-Bronzen im Ethnologischen Museum Berlin

Restitution von Benin-Bronzen
:Wie viel zurückgeht, bleibt offen

"Meilenstein" oder "Enttäuschung": Die Grütters-Konferenz konnte nur einen "Fahrplan" zur Restitution der Benin-Bestände aus 25 deutschen Museen erstellen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: