Süddeutsche Zeitung

Ludwig Wittgenstein über Musik:Das Schöne stellt viel Unfug an

Ein Band versammelt in Stichpunkten alles, was Ludwig Wittgenstein je über Musik geschrieben hat. Wie soll das funktionieren?

Von Helmut Mauró

Ludwig Wittgenstein war bekanntlich nicht nur einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein leidenschaftlicher Lehrer. Er neigte dabei zu körperlicher Züchtigung in einem Maße, das den damals weiten Rahmen in der praktischen Erziehung durchaus sprengte. Seine pädagogische Karriere fand daraufhin ein jähes Ende. Trotzdem blieb Wittgenstein Lehrer, nun aber sich selber und die Nachwelt unterrichtend.

Als musikalischer Mensch - er spielte Klarinette und kannte die Werke der Wiener Klassik und Romantik gut - hatte er auch zu diesem Thema einiges zu sagen. Dennoch: Das nun erschienene Buch "Betrachtungen zur Musik" hat er nie geschrieben. Er hat die Idee dazu formuliert, immerhin. Sie findet sich in seinen Manuskripten: "Der Titel meines Buches: 'Philosophische Betrachtungen, alphabetisch nach ihren Gegenständen geordnet'."

Der Berliner Kompositionsprofessor Walter Zimmermann hat diese Idee jetzt aufgegriffen und alles zum Thema Musik, was das Wittgenstein-Archiv in Bergen hergibt, alphabetisch in Oberbegriffen zusammengefasst: von "Formtypen" wie Fuge, Symphonie, Walzer bis "Töne" wie Tonarten, Tonreihen, Tonleiter. Macht das Sinn? Nicht unbedingt, denn Wittgenstein hat keine Vorlage geliefert für ein Musiklexikon, und selten erklären die zu den einzelnen Stichworten zusammengestellten Sätze den Sachverhalt näher. Die sind eher Fixpunkte, von denen aus und um die herum Wittgensteins Gedanken kreisen. Manches klingt erst einmal fern und abwegig, anderes leuchtet sofort ein.

Zum Beispiel, wenn er nach Ironie in der Musik fahndet und dabei nicht nur Wagners "Meistersinger" ins Spiel bringt, sondern auch das Fugato im Kopfsatz von Beethovens Neunter: "Hier ist etwas, was in der Rede dem Ausdruck grimmiger Ironie entspricht." Das Ironische setzt er gleich dem "Verzerrten" und kommt auf Grillparzer, der sagte, Mozart habe in seiner Musik nur das Schöne zugelassen. Also das Nicht-Verzerrte. Wittgenstein ist - zu Recht - unsicher, ob das so ist, und löst das Problem sogleich mit der Feststellung, hier habe auch der Begriff "das Schöne" manchen Unfug angestellt.

An anderer Stelle ist Wittgenstein - auch mit sich selbst - weniger kritisch. Gustav Mahlers Symphonien etwa, die sich oft in der Verfremdung vorgefundener Musik entwickeln, empfindet Wittgenstein als unecht, ja sogar als Lüge, als "eine Art Betrug". Aber es ist dann doch weniger eine Anklage gegen Mahler als gegen sich selbst: "Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muss einen schlimmen Einfluß auf den eigenen Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht mehr Echtes von Falschem unterscheiden kann. So mag die Unechtheit des Stils Mahlers zu erklären sein + in der gleichen Gefahr bin ich."

Wittgenstein wird hier geradezu emotional, er findet Mahlers Musik "schlecht", "nichts wert", aber er reflektiert die angewandten Kriterien nicht weiter. "Unecht" kann an dieser Stelle nicht viel mehr heißen als unoriginär, nicht einmal unoriginell. Das hat man ja seinerzeit auch Johannes Brahms vorgeworfen. Dass aber die Substanz eines Kunstwerks durchweg neu und einzigartig sein muss, um als bedeutende Kunst anerkannt zu werden, ist kein die Zeiten übergreifendes Gesetz und zeigt eher einen verengten Blickwinkel, der damals die Kreativität vor allem an der Auffindung eingängiger Melodien festmachte. Komponisten wissen: Die sind nicht einmal die halbe Miete.

Aussagen zu Wittgensteins Kerngebiet muss man selbst zusammensuchen

Solche Passagen machen ein bisschen traurig. Wie viel mehr hätte man über Mahler erfahren können, hätte sich Wittgenstein ihm mit der gleichen positiven Akribie genähert wie etwa Franz Schubert, dessen Melodien er treffend gegen die von Mozart stellt, oder wenn er der Beobachtung des Mathematikers Rudolf Rothe nachspürt, Schumann sei "durch die Wirksamkeit Wagners um einen großen Teil seiner rechtmäßigen Wirkung gekommen".

Noch bedauerlicher allerdings ist die Tatsache - und hier verschleiert die alphabetische Stichwortordnung wiederum mehr, als sie weiterhilft -, dass man sich die Aussagen zu Wittgensteins Kerngebiet um Sprache und Sinn, also die Sprachähnlichkeit und Sinnhaftigkeit von Musik, selbst zusammensuchen muss. Hier kann man doch tiefergehende Erkenntnisse erwarten als in den beobachtenden Beschreibungen praktischer Musikerfahrung.

Sätze wie diese weisen darauf hin: "Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen womit sich jeder Sinn ausdrücken lässt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet." Und in Richtung moderner Zeichentheorien: "Symbole enthalten ja die Form der Farbe + des Raumes und wenn etwa ein Buchstabe einmal eine Farbe, ein andermal einen Laut bezeichnet so ist er beidemale ein anderes Symbol - + das zeigt sich darin daß andere Regeln der Syntax für ihn gelten." Wo aber unterscheiden sich Sprache und Musik?

Oftmals könne man nur denken, wenn man halblaut zu sich selber spreche

Man könnte das Sprechen das Instrument des Denkens nennen, sagt Wittgenstein, aber man könne nicht sagen, der Sprechvorgang sei ein Instrument des Denkvorgangs, oder "die Sprache gleichsam der Träger des Gedankens, wie etwa die Töne eines Lieds die Träger der Worte genannt werden können".

Einige längere Abschnitte in diesem Zusammenhang sind in Englisch verfasst: Oftmals könne man nur denken, wenn man halblaut zu sich selber spreche. Aber niemand würde sagen, dass das Denken das Sprechen begleitete, würden sie nicht durch die Existenz der beiden Verben sprechen und denken dazu versucht oder genötigt. Wenn man von etwas sagen kann, dass es mit der Rede einhergehe oder sie begleite, dann wäre dies so etwas wie die Modulation vokaler Bedeutungen des Ausdrucks. "But does the Ausdruck accompany the words in the sense in which a melody accompanies them?"

Der Herausgeber verzichtet auf eine Übersetzung, sie wäre schwierig. Übersetzte man "accompany" mit "begleitet", würde man unterstellen, in gesungener Sprache begleiteten Töne ein Gesprochenes. Es würde also gleichzeitig in getrennter Aktion gesprochen und gesungen.

Musik spricht gar nicht zu uns? Wir sind gar nicht gemeint?

Es ist offensichtlich, dass Wittgenstein in der englischen Zuspitzung nach dem Charakter musikalischer Bedeutungsmöglichkeiten sucht, und doch entlarvt er sie als Chimären, nimmt dem Leser dabei den verführerischen romantischen Glauben: "Die Melodie ist eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst." Sie spricht also gar nicht zu uns? Wir sind gar nicht gemeint, gar nicht Teil der Kunst? Das wäre ernüchternd, deprimierend - und tröstlich.

Manchmal sind Wittgensteins Gedanken auch etwas "vermudelt", womit weniger die Unordnung gemeint ist als beinahe das Gegenteil, die unerbittliche Konsequenz seines Denkens, die Unumkehrbarkeit gewonnener Erkenntnis. Vermudelt ist "wie Silberpapier, das einmal verknittert ist, sich nie mehr ganz glätten lässt". Da ist er zu sehr in der Musik, um die Distanz des Unverständigen zu halten, und nicht ganz darin, um aus ihr heraus denkend für sie zu sprechen. Fragen führen weiter. Was entbehrt der Unmusikalische? "Was fehlt dem, der nicht empfindet, beim öftern Wiederholen des Wortes 'Bank' gehe diesem etwas verloren; seine Bedeutung; + es werde nun ein bloßer Klang?" Wittgensteins Antwort, es handle sich um eine Art Aspektblindheit, bleibt unbefriedigend. Der Leser muss selber denken; mehr kann ein Lehrer nicht erreichen.

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