Süddeutsche Zeitung

50. Todestag des Essayisten und Philosophen Ludwig Marcuse:Wahre Toleranz

Vor 50 Jahren starb der Essayist und Philosoph Ludwig Marcuse. Gerade heute lohnt es sich, ihn wieder zu lesen.

Von Johann-Hinrich Claussen

Der 50. Todestag eines Schriftstellers ist ein schwieriges Datum. Irgendwie kennt man ihn noch, sodass eine sensationelle Wiederentdeckung unmöglich ist. Ältere haben manche seiner Bücher im Regal, die auf Jüngere aber ziemlich angestaubt wirken. So wird der Verlag, der seine Rechte verwaltet, keinen Anlass sehen, sich sonderlich zu engagieren. Wenn man dann noch einen prominenteren Namensvetter hat, ist die Gefahr groß, dass der Jahrestag ausfällt. Das aber wäre im Falle von Ludwig - nicht: Herbert - Marcuse schade. Denn Deutschland, diese konformistische Nation, hat nicht so viele wirklich freie Geister hervorgebracht, als dass sie es sich leisten könnte, diesen wunderbaren Individualisten zu vergessen. Auch besitzt dieses Land der komplizierten Dichter und umständlichen Denker nicht allzu viele Autoren, die zugleich nachdenklich und zugänglich, ernst und heiter schreiben konnten. Es lohnt sich also, an Ludwig Marcuse zu erinnern, der heute vor fünfzig Jahren in Bad Wiessee verstorben ist.

Er hat nie dazugehört. Rückblickend schrieb er: "Ich war mein Leben lang 'freier' (das heißt auch: schlecht bezahlter) Schriftsteller, 'freier' (das heißt: parteiloser) Bürger, 'freier' Denker (das heißt auch: nie Freidenker): ein Mensch also, der immer so frei war, sich ohne Gewissensbisse zu widersprechen, von keiner Weltanschauung beschützt und deshalb tausend Anfälligkeiten ausgesetzt zu sein." Die jüdische Religion seiner Vorfahren bot ihm keine Heimat. Schon für seinen Vater, einen wohlhabenden Fabrikanten, besaß sie bloß einen nostalgischen Gemütswert. Ein assimilierter Besitzbürger konnte Ludwig aber auch nicht werden. Dafür interessierte er sich viel zu wenig für berufliches Fortkommen und wirtschaftlichen Erfolg. Das hatte sein Gutes: Den Verlust des Erbes in der großen Inflation nahm er mit einem Achselzucken hin.

Marcuse verstand sich konsequent als Einzelner. Dabei half ihm sein wichtigster Autor: ein menschenfreundlich gelesener Friedrich Nietzsche. Über ihn schrieb er seine Doktorarbeit, und zwar bei dem evangelischen Theologen und Religionsphilosophen Ernst Troeltsch. Der wiederum war so liberal, nicht-konforme Schülerinnen und Schüler um sich zu sammeln. Als er 1923, viel zu früh, verstarb, schloss sich für Marcuse das Tor zur akademischen Welt.

Er gehörte keiner Clique an, deshalb sah er klarer, was kommen sollte, und handelte schnell

Fortan lebte er als freier Autor. Seine Buch- und Theaterkritiken haben sich eine seltene Frische bewahrt. Es sind Kleinode der literarischen Urteilskraft, des Geschmacks und der Menschenkenntnis. Man lese nur die Gedenkartikel für seinen Freund Joseph Roth, scharfsinnig und anrührend zugleich. Marcuse hatte seine Lieblinge und blieb ihnen treu: Außer Nietzsche und Roth waren dies vor allem Heinrich Heine, Georg Simmel und Heinrich Mann. Aber er gehörte keiner Clique an, hielt Distanz auch zu seinem eigenem Berufsstand. Deshalb wohl sah er klarer, was kommen sollte, und handelte schnell.

Gleich zu Beginn der NS-Diktatur emigrierte er und ließ sich in Frankreich nieder. In Sanary-sur-Mer, diesem bezaubernden Städtchen am Mittelmeer, das plötzlich zur heimlichen Hauptstadt der deutschen Literatur geworden war, lebte er mit Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Annette Kolb, den Manns und vielen anderen in direkter Nachbarschaft. Es waren "sechs glücklich-unglückliche Jahre", eine Mischung aus endlosen Sommerferien, Schreibklausur und Kaffeehaus unter offenem Himmel. Rechtzeitig verließ er dieses fatale Idyll und wanderte in die USA aus. Welchem Unheil er entronnen war, wurde ihm in furchtbarster Unmittelbarkeit deutlich, als ihm 1959 die Tagebücher seiner Schwester Esther übergeben wurden. Diese war in Deutschland bei ihrer alten Mutter geblieben. Durch ihre Aufzeichnungen konnte er ihren quälend langen Weg in den unausweichlichen Tod nachvollziehen.

1962 zog er nach Deutschland zurück und ließ sich in Bad Wiessee am Tegernsee nieder. Er erwartete keine Freundlichkeiten und bekam auch keine. Der Umgang mit den Remigranten ist bekanntlich eine zweite historische Schande Deutschlands. Aber Marcuse machte aus seiner vielfältigen Leidensgeschichte keine Identität, sondern hielt daran fest, ein Individuum zu sein - frei, unverwechselbar und uneindeutig. Denn: "Widersprüche sind kein Einwand gegen einen Menschen. Das Wort Individuum meint nur: Unteilbarkeit, nicht: Harmonie der Teile."

Oft wird er einsam gewesen sein. Er hat dies nicht verklärt, wie manche Dichter es tun, sondern als seine grundsätzliche Bestimmung aufgefasst und angenommen: "Wer sich einsam fühlt und damit ausgestoßen, sollte auch erkennen, dass die Erfahrung, isoliert zu sein, zur Definition des Menschseins gehört - wenn auch nur selten zum Bewusstsein. Jeder ist, seiner Anlage nach, vor allem einsam, selbst wenn er es achtzig Jahre lang nicht gemerkt hat." Doch wer sein Leben lang für sich ist, gerät weniger in Versuchung, sich gemein zu machen und dadurch gemein zu werden.

"Toleranz heißt: aus den heiligen Gefühlen, die man besitzt, nicht Fesseln machen für den Nebenmenschen, der andre heilige Gefühle hat."

Immer noch sehr bedenkenswert ist Marcuses Beitrag zur Blasphemie-Debatte von 1930. Damals hatten Vertreter der evangelischen Kirche gegen das berühmte Bild "Christus mit Stahlhelm und Gasmaske" von George Grosz geklagt. Marcuse nahm dies zum Anlass für eine grundsätzliche Meditation: "Tolerieren heißt duldsam sein. Tolerieren heißt nicht: bei niemandem anstoßen; heißt nicht: heilige Symbole als Deckmantel unheiliger Tatbestände respektieren - Toleranz heißt: sich nicht aufs grüne Sofa setzen und übel nehmen. Toleranz heißt nicht: auf den Kampf verzichten, weil dabei die gesegneten gegnerischen Fahnen zerfetzt werden können - Toleranz heißt: aus den heiligen Gefühlen, die man besitzt, nicht Fesseln machen für den Nebenmenschen, der andre heilige Gefühle hat."

Offenkundig hat sich seit damals vieles gewandelt. Anderes gilt heute als heilig oder tabu. Toleranz ist dennoch nicht weniger nötig. Deshalb sollte man sich an Marcuses Forderung erinnern: "Die Privilegien im Anstoßnehmen müssen endlich aufhören!" Und auch diese Sentenz ist immer noch sehr beherzigenswert, für religiös ebenso wie für säkular eingestellte Menschen, die es so oder so mit dem Übelnehmen und Verletztsein übertreiben: "Man zweifelt doch sehr an der Heiligkeit von Gefühlen, die sich weniger in einer Sicherheit, in einem beseligenden Glauben äußern als im Haß gegen die Manifestationen der Ungläubigen - im Wittern von Frevlern."

Übrigens, man sollte sich Ludwig Marcuse auch als einen glücklichen Menschen vorstellen. Das geht am besten, wenn man seine "Philosophie des Glücks" liest, die er 1948 veröffentlicht hat. Dies ist immer noch das beste Buch über das in der deutschen Denktradition nicht eben pfleglich behandelte Menschheitswort "Glück". Auch seine Erinnerungen "Mein zwanzigstes Jahrhundert" aus dem Jahr 1960 sind sehr zu empfehlen. Aber eigentlich sollte man alles von ihm lesen, was einem in die Finger kommt. Man kann bei einem Autor nichts falsch machen, der dieses Lebensmotto über seinem Schreibtisch angebracht hatte: "Es ist immer komplizierter."

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