Klassik-CD:Gewaltiger Organismus

Kostenloses Pressebild von Luca Guglielmi, bezogen über R. Brembeck, bzw. CAvi-music . The Artist's Label
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Luca Guglielmi, geboren 1977 in Turin, ist Cembalist, Komponist, Musikdenker und ein genialer Musiker.

(Foto: Simone Bartoli)

Das "Wohltemperierte Clavier I" von Johann Sebastian Bach ist ein riesiges Rätsel aus 48 Stücken. Luca Guglielmi hat in seiner grandiosen Aufnahme eine überzeugende Lösung dafür gefunden.

Von Reinhard J. Brembeck

Zwei pausenlose Stunden Musik, ein Stück verbeißt sich ins andere, bis es 48 sind, bis des Hörers Nerven endgültig nachzugeben drohen, weil die unablässig treibenden Rhythmen selbst in den langsamen Passagen ihn keinen Moment aus dem Visier lassen, ihn aufwiegeln und fortpeitschen, erotisieren und empören. Der erste Band des "Wohltemperirten Claviers" (so steht es in der Handschrift von 1722) von Johann Sebastian Bach ist eine Provokation, auch weil sich dieser Zyklus immer noch nicht einordnen lässt. Ist diese Folge von 24 Präludium-und-Fuge-Paaren, die schematisch von C-Dur bis h-Moll chromatisch aufsteigen und genauso schematisch auf jeder Stufe erst ein Dur- und dann ein Moll-Duo bilden, tatsächlich ein Zyklus?

Wie zwingend unabweislich passt zu dem jeweiligen Präludium, dem Vorspiel, die nachfolgende Fuge als ineinander verknoteter Höhepunkt? Wie viel öde Pädagogik ist hier im Spiel, wie viel künstlerischer Größenwahnsinn? Warum wirkt das Ende so wenig finalhaft abschließend, sodass man schon deshalb den ganzen Zyklus gleich noch einmal und noch einmal hören will, um dessen Rätsel zu ergründen? Aber, halt!, das alles grenzt doch an Irrsinn. Wobei Bach durchaus auch Irrsinn im Sinn gelegen haben könnte, als er dieses 48-Stücke-Ungeheuer komponierte und kompilierte, zumal er dann zwanzig Jahre später einen zweiten solchen Zyklus nachschob.

Jeder Musiker, der sich an dieses Ungeheuer heranmacht, muss spielend Antworten auf die obigen und gleich noch ein paar Tausend Fragen mehr geben. Zuallererst aber auf die Frage nach dem richtigen Instrument. Zu Bachs Zeiten gab es noch kein brauchbares Klavier, auf dem diese Stücke heute meist mehr malträtiert denn gespielt werden. Gängig waren seinerzeit Cembalo, das intime Clavichord, die in ihrem Klang starre Orgel. Luca Guglielmi entscheidet sich wie fast alle großen Bach-Kenner für das Cembalo, auf dem so gut wie alle Passagen des Zyklus spielbar sind.

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Zudem hat Gugliemli mit einem von Christian Zell 1737 in Hamburg gebauten und in Barcelonas Musikmuseum aufbewahrten Cembalo ein wundervoll magisch dunkel klingendes Instrument unter den Händen. Von diesem Meisterbauer sind überhaupt nur drei Cembali erhalten. Das Zell-Cembalo hat sich Guglielmi in einer leicht vom heutigen öden Standard abweichenden Stimmung intonieren lassen, in Johann Georg Neidhardts System, "für eine kleine Stadt", "für eine große Stadt", lustige Titel für abstrakte Stimmungssysteme, in denen die durch alle bekannten Tonarten wühlenden Bach-Stücke nur ganz leicht verfremdet, aber immer charakteristisch klingen.

Guglielmi, geboren 1977 in Turin, ist nicht nur Tasteninstrumentenspieler, sondern auch Komponist, Pädagoge und Dirigent, er hat mit vielen Heroen der Alte-Musik-Szene gearbeitet und schon 50 CDs auf den Markt geworfen. Da ist also ein Mann, der es unbedingt wissen will, der den gespielten Stücken ganz auf den Grund geht: Die englischsprachigen Booklet-Notizen zu den einzelnen Präludien und Fugen sind von prägnanter Luzidität. Um die Details kümmert sich Guglielmi auch spielend mit Akkuratesse und Liebe, nichts wird unterschlagen, nicht romantisch überinterpretiert, nichts in Tastenstürmen ersäuft. Guglielmi weiß, wie viel Bach dem Tanzen verdankt, und er bringt das in jedem Stück ganz eigen zum Vorschein.

Nie aber opfert Guglielmi für ein noch so schönes Detail den Zugang zum großen Ganzen. Wie nur wenigen seiner Kollegen gelingt es ihm, diese 48 Stücke als eine fantastisch überbordende Einheit zu präsentieren, neben der selbst Mammutunternehmungen wie Anton Bruckners Unvollendete oder Gustav Mahlers Neunte überschaubar wirken. Ganz abgesehen davon, dass diese Romantiker über kein vergleichbar breites Ausdrucksspektrum wie Bach verfügen. Der Hörer wird in Guglielmis zwei Bach-Stunden demütig klein. Er gibt es bald auf, die unzähligen Mutationen und Emanationen der Themen bewusst nachzuvollziehen. Immer reißt ihn der Cembalist hin und weiter zu neuen Gefühlswelten.

Aber im Unbewussten entsteht ein gewaltiger Organismus, der sich vor Leben und Vitalität nicht mehr einkriegt. Und der Hörer, schnell durch Guglielmi zum Süchtling geworden, vergisst völlig, dass es noch andere Musik und auch sonst noch ein Leben gibt. Schon in den kaum verklungenen H-Dur-Akkord des letzten Stücks hinein lässt er deshalb schon wieder die C-Dur-Arpeggien des ersten rieseln. Ein schöneres Klanggefängnis kann sich kein Mensch vorstellen. (Avi - Service for music)

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