"LP1" von FKA twigs:Maximal unabhängig

"LP1" von FKA twigs

Treiben, wühlen, suchen: FKA twigs.

(Foto: Young Turks/XL/Beggars)

Verblüffend vollendet klingt das Debütalbum der britischen Pop-Sängerin FKA twigs. Einmal denkt sie zwar kurz ans Aufgeben, was bei diesem schweren Erdenleben verständlich sein könnte. Doch dann reißt sie sich doch mit großer Geste zusammen - und krönt damit den Pop-Sommer.

Von Kevin Vennemann

Man hätte Tahliah Barnett schon vor Jahren bemerken können, als sie als Tänzerin in den Musikvideos der Popsängerin Jessie J zu sehen war. Sie nannte sich Twigs oder wurde so genannt - je nach Quelle entweder deshalb, weil ihre durchtrainierten Arme und Beine wie Äste aussahen, oder wegen ihrer knackenden Gelenke.

Damals, ungefähr 2010, sangen wir Jessie Js Hits im Auto mit oder hörten sie im Kaufhaus rumpeln. Rotzige Ohrwürmer, an die wir nie wieder einen Gedanken verschwendet hätten. Würde nicht dieser Tage das grandiose Debütalbum der Sängerin Tahliah Barnett erscheinen, zur Krönung dieses Pop-Sommers.

Geboren und aufgewachsen ist die Mittzwanzigerin Barnett in Cheltenham, einer ländlichen Kleinstadt gut zwei Stunden nordwestlich von London. Wer gotische Kathedralen als Kulisse für seine Harry Potter-Verfilmung benötigt, dreht hier im Landkreis Gloucestershire, wo England sehr, sehr englisch ist.

Klar, das Barnett hier weg musste. Als Teenager zieht sie nach London. Sie wird zu Twigs, tanzt für Ed Sheeran und Kylie Minogue, führt in Jessie Js Videos mit goldverkronten Zähnen unmögliche Tanzschritte und Aggro-Posen vor oder hampelt in einer Doppelrolle als Marionettenzwillingspaar über den Bildschirm.

Mit der vollkommen humor- und ironiefreien "LP1" (Young Turks/XL/Beggars) im Ohr lässt sich über diese Vergangenheit heute nur staunen. "Is she the girl from the video?", fragt ungläubig auch Barnett selbst, und zwar in "Video Girl", einem der Höhepunkte des Albums.

Interessante Videoinstallationen

Längst hat Twigs sich in FKA twigs verwandelt (FKA steht für formerly known as, früher bekannt als), nach einem Rechtsstreit vielleicht oder einfach deshalb, weil sie nicht länger das Videomädchen sein wollte. "I can't recognize me", singt sie weiter.

"LP1" ist das Ergebnis eines über zwei Jahre hinweg orchestrierten Aufstiegs, seitdem sie im Dezember 2012 ein erstes, selbstgeschriebenes und selbstproduziertes Minialbum veröffentlichte. Musikalisch hatte "EP1" kaum mehr zu bieten als langsam vor sich hinpluckernden Elektro-R'n'B, mehr sphärisch und sediert als melodisch oder nachhaltig beeindruckend. Interessanter waren schon die reduzierten, nahezu ungeschnittenen Videoinstallationen, die die Alleskönnerin Barnett für jeden der vier Titel rund um Fragen nach der eigenen sexuellen und ethnischen Identität drehte.

Hier geschieht einfach alles, und alles funktioniert

Bei den Aufnahmen der zweiten EP, "EP2", lässt sie sich 2013 von dem jungen venezolanischen Produzenten Arca assistieren. Die Bässe werden tiefer, die Arrangements üppiger, zugleich konzentrierter, die Kompositionen deutlich gestrafft, auch idiosynkratischer. "Water Me" lässt an die allerbesten Momente Portisheads denken, und wurde nicht nur deshalb im vergangenen Herbst zu einem kleinen Hit.

So richtig eingeschlagen hat vor wenigen Wochen dann aber "Two Weeks", die erste Single-Auskopplung aus "LP1".

Auf ihren EPs hatte Barnett von einem sehr vagen Verlangen nur gehaucht, von gelegentlichem Zorn und Schmerz. In "Two Weeks" gibt sie alle Zurückhaltung auf, seufzt gleich zu Beginn ein unfassbares "You know", das Beyoncé nicht selbstbewusster und Beth Gibbons nicht verzweifelter hinbekommen hätten.

"Two Weeks" ist ein derart treibender, wühlender, suchender Wurm von einem Song wie es ihn nur selten gibt und zuletzt noch allenfalls vor zwei Jahren mit Ushers "Climax" gegeben hat. Hier geschieht einfach alles, und alles funktioniert.

Und beides, so stellt sich heraus, gilt auch für das Album. Es ist der Bericht von einer langen Reise, die die Protagonistin gegen alle Widerstände und Konflikte zurücklegt, um zu sich selbst zu finden. Vielleicht zu ihrem Begehren? Ein Präludium zitiert ein Gedicht von Thomas Wyatt: "I love another, and thus I hate myself."

Allzu lüsternes Missverständnis

Vor Schlafzimmerjazz-Bass, Kirchenorgeln und gesampelten Autoalarmanlagen singt Barnett im folgenden "Lights On" jene Zeile, die noch häufig als allzu lüstern missverstanden werden wird: "When I trust you we can do it with the lights on."

Dabei wird hier doch nur auf Verständnis insistiert und auf wirklichem Vertrauen als Grundbedingungen jeder Nähe. Nur auf diese Weise könne Wyatts hilfloser Selbsthass überwunden werden, den so etwas Gefährliches wie die Liebe mit sich bringt.

Verschleppt vom Soul

In "Two Weeks" singt FKA twigs dann Klartext: Grundsätzlich sei sie zu allem bereit, werde jedoch auch ohne ihr noch unentschlossenes Gegenüber zurechtkommen, "you know?" Klar sei aber doch, dass sie ihn - oder sie - in ekstatische Zustände versetzen könne wie sonst niemand anderes.

Zur Umschreibung dieser Hochgefühle greift Barnett auf jene schönen Worte zurück, mit denen Gangster Rap-Legende Eazy-E vor 20 Jahren die Möglichkeiten seines liebsten Rauschmittels pries: "Higher than a motherfucker" werde das Du sein, wenn sie erst einmal mit ihm fertig ist.

Dann ein Rückfall. "Pendulum", zweite Single und nächster Höhepunkt, gibt sich so unentschlossen, wie es der Titel andeutet - und das ist natürlich genau richtig so. Für den zögernd oszillierenden Beat hat Barnett "Water Me" geplündert, um sich ein verdientes Eigenzitat zu gönnen.

Sowieso der Beat. Traf die häufig für FKA twigs bemühte Rubrik Trip-Hop in Wahrheit schon auf die EPs nur bedingt zu, durchwühlt Barnett auf ihrem Album die Überreste diesen alten Genres allenfalls auf der Suche nach ein paar brauchbaren Rhythmen.

Tatsächlich ist es der Soul, den sie auf ihrem Weg dorthin verschleppt, wohin auch immer sie unterwegs ist. Mit anderen Worten: Gelegentlich deutet sich eine Nähe zu den elegischen Kollaborationen des Dubstep-Produzenten Burial mit Massive Attack an. Dann scheint die tanzbare Rotzlöffeligkeit von Tinashe durch, hier das epische Schmachten von How to Dress Well oder Mariah Carey, dort die kluge Ruhe im Neo-Soul so verschiedener Acts wie SZA oder Inc.

Eine andere Assoziation klingt fast geschmacklos, so nachvollziehbar sie auch ist: Das gesamte Album, in Titel und Inhalt vor allem "Give Up", beschwört den Gedanken an eine gespenstische Version der jung verstorbenen Aaliyah. Deren "Try Again" forderte vor 14 Jahren noch zum Durchhalten und Weitermachen auf.

Sich zusammenreißen, um durchzuhalten

FKA twigs scheint im Kampf um sich selbst dagegen ganz kurz vor dem Ende die Kraft auszugehen: "Do we get another chance?", heißt es im entsprechend konfusen "Give Up", ihrer vielleicht nur zufällig schwächsten Komposition.

Zum Finale jedoch die Erleichterung: Die Erzählerin reißt sich noch einmal zusammen, verwandelt mit großer Geste ihr Entsetzen über die Hilflosigkeit der eigenen Liebe in die maximale Unabhängigkeit: "I just touch myself. And say, I'll make my own damn way." Ob es sich bei "Kicks", bei diesem letzten großen Titel dieses großen Albums, aber wirklich um eine Masturbations-Hymne handelt, das sollen und werden andere beurteilen.

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