Süddeutsche Zeitung

"Loving Vincent" im Kino:Das Fieber in seinen Augen

"Loving Vincent" ist der erste Film, der komplett aus Ölgemälden besteht. Fast wie ein Thriller erzählt er von Leben und Tod Vincent van Goghs.

Von Anke Sterneborg

Nachdenklich steht ein junger Mann vor den berühmten Feldern in Arles, zwischen den charakteristisch leuchtenden Farben und den ungestüm dicken Pinselstrichen, sozusagen mitten in einem Bild, das Vincent van Gogh gemalt hat.

Langsam verdüstert sich der Himmel, dunkle Wolkenstrudel ziehen auf, Krähen kreisen über der Landschaft, Regen beginnt in dicken Strichen herunterzuprasseln. Es ist tatsächlich so, als würde das Bild aus seiner Statik gelöst und in Bewegung versetzt, um den Betrachter hineinzuziehen. So muss es sich anfühlen, wenn man in den Kopf eines Künstlers hineinschlüpft, in seine Wahrnehmung.

Als Zuschauer betritt man die Lebenswelt des Künstlers zusammen mit dem jungen Heißsporn Armand Roulin (Douglas Booth). Der hält zunächst gar nichts von der Aufgabe, die ihm sein Vater, der Postmeister der Region überträgt. Ein Jahr nach dem Tod Vincent van Goghs soll er sich auf den Weg nach Paris machen, um den letzten, auf dem Postweg nicht zustellbaren Brief des berühmten Malers bei dessen Bruder Theo abzuliefern. Dabei geht es dem Vater nicht allein darum, dass der Brief seinem rechtmäßigen Empfänger zugestellt wird; sondern mehr noch darum, dem Leben seines ständig in Wirtshausraufereien verwickelten Sohnes eine neue Richtung zu weisen.

Erinnerungen an eine zerrissene Künstlerseele

So beginnt Armand zunächst widerwillig mit seinen Recherchen, beim Farbenhändler in Paris, dann in Arles und Auvers, in dem Gasthaus, in dem van Gogh unter einfachsten Verhältnissen lebte, beim Bootsverleiher, mit dem er sich regelmäßig traf, im Haushalt des Nervenarztes, der sich um ihn kümmerte. Jeder hat seine Meinung zum Geisteszustand des Malers.

"Ich konnte das Fieber in seinen Augen sehen", sagt die missmutige Haushälterin des Arztes, während die liebenswürdige Tochter des Gastwirts ihn sehr viel zärtlicher beschreibt. Leichtfertiger Tratsch über das Enfant terrible des Dorfes wechselt mit melancholischen Erinnerungen an eine zerrissene Künstlerseele.

Im Stil einer Mockumentary fügen sich die Gespräche mit den Menschen, die den Maler kannten, zu seiner Lebensgeschichte. In einer Struktur, die an "Citizen Kane" erinnert, folgt Armand wie in einer Schnitzeljagd den zum Teil widersprüchlichen Hinweisen. Und als der Farbenhändler auf allerlei Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem angeblichen Selbstmord hinweist, wandelt sich die Suche nach dem Empfänger des Briefes zur Detektivgeschichte. Wie soll es möglich sein, dass sich van Gogh mit einem Gewehr in den Bauch schießt? Wo sind Leinwand, Farben und Staffelei geblieben, an denen er bis zuletzt im Feld gearbeitet haben soll? Warum haben die Gutsbesitzer in ihrer Scheune einen Schuss gehört, und wo ist die Pistole, die unter dem Tresen des Gasthauses aufbewahrt wurde? Immer stärker wird Armand in den Bann dieser Kriminalgeschichte gezogen, und erliegt dabei zunehmend auch der Faszination der Gemälde und ihres zerrissenen Schöpfers.

Die die rund 63 000 Einzelbilder des Films wurden in genau so viele Ölgemälde übertragen

"Wir können nur durch unsere Bilder sprechen", hat van Gogh einmal gesagt und die Regisseure Dorota Kobiela und Hugh Welchman nehmen dieses Zitat ernst. Es gelingt ihnen, sich in die Welt des Künstlers einzufühlen, sie im wahrsten Sinne des Wortes zugänglich zu machen, zum Leben zu erwecken.

Durchaus naheliegend ist das, weil van Gogh wie besessen seine Umgebung gemalt hat, Menschen, Landschaften, Stadt- und Kneipenszenen. So lassen sich seine Werke in gewisser Weise wie ein Tagebuch lesen. Um diese Momentaufnahmen tatsächlich in einen filmischen Fluss zu bringen, haben die beiden Filmemacher aus Polen und England zunächst in gebauten Sets mit Schauspielern aus Fleisch und Blut gedreht. Chris O'Dowd, Saoirse Ronan und allen voran Douglas Booth als Armand spielen Szenen, die sich zum größten Teil an realen Gemälden orientieren, Lücken aber immer wieder auch mit der Fantasie füllen. Hilfreich ist dabei, dass van Gogh während des Malens oft wie ein Filmemacher mit der Kamera die Perspektive gewechselt hat, die Bewegung indirekt also schon in den Bildern enthalten ist. Entsprechend natürlich wirkt es, wenn sich die Kamera ganz unmittelbar und impulsiv in dieser Welt bewegt. Nach dem Dreh gingen mehr als hundert Maler auf der Basis dieses Materials ans Werk. Im Rotoskopie-Verfahren übertrugen sie die rund 65 000 Einzelbilder des Films in einem sechs Jahre dauernden Prozess in Ölgemälde, die anschließend abgefilmt wurden. Ein Film, der ein wenig anmutet, als wäre er im Museum geträumt worden.

Loving Vincent, Polen/ GB 1017 - Regie: Dorota Kubiela, Hugh Welchman. Buch: Dorota Kubiela, Hugh Welchman. Jacek Dehnel. Kamera: Tristan Oliver, Lukasz Zal. Musik: Clint Mansell. Mit: Douglas Booth, Chris O'Dowd, Eleanor Tomlinson, Aidan Turner, Saoirse Ronan. Robert Gulaczyk. Verleih: Weltkino. 94 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2017/cag/khil
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