Süddeutsche Zeitung

Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv":Sei nicht traurig

Das grelle Licht der Öffentlichkeit schockierte die Dichterin Louise Glück, als sie den Literaturnobelpreis bekam. Jetzt erscheint neue Lyrik von ihr. Sie hüllt uns damit alle in existenzielle Dämmerung.

Von Marie Schmidt

Louise Glücks Sehnsucht danach, aus der Zeit zu fallen, findet in dem Band "Winterrezepte aus dem Kollektiv" ihren Meister in einem Hotelportier. Nach einem Dutzend stiller Lyriksammlungen und zwei Essaybänden ist es das erste Buch, das sie unter den Augen eines internationalen Publikums veröffentlicht. Erst durch den Literaturnobelpreis ist die 1943 geborene und zuvor mit den höchsten amerikanischen Literaturpreisen gekrönte Dichterin im Jahr 2020 weltbekannt geworden. Ein Jahr danach erscheint eine schmale Auswahl von 15 neuen Gedichten.

Das zweite davon heißt "Die Verleugnung des Todes" und es beginnt damit, dass das lyrische Ich seinen Reisepass verliert. Woraufhin ein mitreisendes Du alleine weiterfährt und nur noch Postkarten dorthin zurückschickt, wo man sich trennte, und wo die Sprecherin nicht einmal mehr im Motel unterkommt: "Der Concierge besorgte mir eine alte Decke. / Am Tage saß ich vor der Küche. Bei Nacht breitete ich meine Decke / unter den Orangenbäumen aus. Ein Tag wie der andere, bis auf das Wetter."

Abgehängt und in sich wiederholenden Abläufen findet das Ich seine Erfüllung, es erlebt eine authentischere Zeit und dieser "Concierge" wird eine Art Zen-Meister des ewigen Wartens. Er lehrt, in weiteren Epochen zu denken, und zeigt seine Lektion an einer Taschenuhr: "Versuch einmal, sagte er, / zu bestimmen, indem du hierauf blickst, ob Montag oder Dienstag ist. / Blickst du jedoch auf die Hand, die sie hält, wirst du bemerken, dass ich kein / junger Mann mehr bin".

"Alles ist zu Ende, sagte ich."

Die Gedichte, die ihr etwas bedeuteten, sagte Louise Glück in ihrer Nobelpreisvorlesung, seien solche, die der Teilnahme der Lesenden bedürfen. Sie grenzte sie ab gegen eine andere Art von Lyrik, der man nur staunend beiwohnen könne (sie nannte als Beispiel für eine solche Kunst Shakespeares "Sonett 18" mit dem bekannten ersten Vers "Shall I compare thee to a summer's day?"). Ihr dagegen sei an einem intimen Pakt mit jeder einzelnen Leserin und jedem Leser gelegen. Erst durch deren Mithilfe "wird die Stimme ermutigt zu ihrer Bitte und ihrer Vertraulichkeit".

Die Zen-Übung, an der Uhr ein Lebensalter abzulesen, soll also auch unsere sein. Glücks Gedichte wollen ausgerechnet von uns gestressten Zeitgenossen, dass wir die Taktung der Terminkalender hinter uns lassen: "Sei nicht traurig", sagt der Concierge: "Du hast deine eigene Reise begonnen, / nicht in die Welt wie deine Freundin, sondern zu dir selbst und deinen Erinnerungen."

Einwärts ins Selbst geht im Werk von Louise Glück schon lange jede künstlerische Bewegung. Dazu kommt in dieser Alterslyrik besonders, wie sie sich verabschiedet in ein langes Nachleben. Alles auf diesen Seiten liegt im letzten Licht. "Die schönen goldenen Tage, als du bald sterben solltest", beginnt ein Gedicht und ein anderes: "Alles ist zu Ende, sagte ich. (...) Und ist das der Fall, / hat es keinen Zweck etwas anzufangen, / nicht einmal einen Satz".

Der Schauplatz dieses gerade noch vor dem Verstummen hervorgebrachten Sprechens scheint in diesem neuen Band passenderweise ein Altersheim zu sein: "Vom Aufstehen verabschiedest du dich besser, / sagt meine Schwester. Wir saßen auf unserer Lieblingsbank / draußen vor dem Gemeinschaftsraum und tranken / ein Glas Gin ohne Eis. / Sah aus wie Wasser, so dass die Krankenschwestern / dir zulächelten, wenn sie vorbeigingen, / zufrieden, wie gut du dich hydriertest." Das Beckett-hafte Szenario eines Lebens nach seinem Ende geht bei Louise Glück in fast fröhliche Momente betreuten Wohnens über.

Ob sie als depressiv zu gelten hat, als absichtlich weltabgewandt oder als irritierend besinnlich, hat Glücks Lyrik selbst unter dem Druck des Nobelpreises nicht preisgegeben. Was es an ironischen Momenten darin gibt, übersteht die Übertragung ins Deutsche nur schwer: "We were having a fine old time getting old", sagen die Alten zueinander, Uta Gosmann lässt Rhythmus und Dopplung fallen und übersetzt im Plauderton: "Wir amüsierten uns prächtig beim Altwerden".

Stärker als Ulrike Draesner, die frühere Gedichte von Louise Glück übersetzt hat, hat sich Gosmann offenbar entschlossen, die freien Verse möglichst schlicht ins Deutsche zu bringen. Da fällt dann aber doch auf, wie viel in den, ihrem erzählerischen Charakter nach oft zum Prosagedicht neigenden Versen Louise Glücks von winzigen idiomatischen Tricks abhängt. Von Bonsai-Bäumen, die in diesem Band eine geradezu mythische Rolle spielen, heißt es an einer Stelle: "We have deprived them of their origins, / they have come to need us now." Dass das Verb "come" ein Hilfsverb ist und gleichzeitig als Verb der Bewegung das Bild freisetzt, die Dinge der Natur, der die Menschen die Natürlichkeit genommen haben, kämen jetzt zu ihnen zurück, und riefen um Hilfe, ist kaum ins Deutsche zu transportieren. Uta Gosmann schreibt: "Wir haben sie ihres Ursprungs beraubt, / daher brauchen sie uns jetzt."

Wenn man nicht in solchen Details mitschwingt, kann man Louise Glücks Gedichte wahrscheinlich nicht lesen, ohne sie merkwürdig blass zu finden. Enorm großzügig sind sie dafür in der Tat gegenüber identifikatorischen Lesern, die sich in ihre Atmosphäre ganz hineinleben und in der Leere im Zentrum des Textes ihre eigene existenzielle Verlorenheit gespiegelt sehen. "Wir standen eine Weile schweigend, schauten es gemeinsam an", heißt es in dem Gedicht "Die untergehende Sonne" über ein Kunstwerk. So ehrfürchtig verhält sich Louise Glücks lyrische Stimme auch zum immer vom Rande betrachteten Leben: Ein Ich und ein Du blicken es an, sensibel verstummend. In den vom Nobelpreis mobilisierten Glück-Lesern finden sich in diesem Winter vielleicht ein paar neue Instanzen dieses Du. Mehr braucht es für ein Kollektiv in Louise Glücks Sinne nicht.

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